Vaters Wagen parkte vor der Garage. Ich stellte Liams Pickup auf der Straße ab. Wir schwiegen und lauschten gebannt der Stille ob in der Ferne Sirenen zu hören sein würden. Die Fenster des Hauses waren dunkel und ich hörte das Blut in meinen Ohren rauschen. Es war nicht der Alkohol gewesen, der mich entspannt hatte. Es war Liam gewesen. Daran wollte ich in diesem Moment nicht denken. Ich zog den Schlüssel ab und seufzte erleichtert, als es überall still blieb. Nadiri war die erste, die wieder sprach: „Was für eine Party…lasst uns rein gehen. Es gibt glaube ich noch etwas vom Abendessen im Kühlschrank. So wie ich Vater kenne hat er auf jeden Fall etwas aufgehoben.“ Ich nickte stumm, während ich einen Blick zu Liam warf. Der Basketballer blickte aus dem Seitenfenster zu unserem Haus. Nachdenklich schien er zu sein. Da lag noch etwas anderes in der Luft das ich nicht benennen konnte. Ich riss mich von seinem Anblick los und öffnete die Tür.
Es stellte sich als mühseliger heraus als gedacht mit Liam durch den langen Hausflur zur Küche zu schleichen. Mutter würde sowieso nicht wach werden. Wir wussten, dass unser Vater am nächsten Morgen wieder zur Space Station gehen würde um dort zu arbeiten. Das neue Forschungsprogramm erforderte seine ganze Aufmerksamkeit und wir wollten es ihm nicht noch schwerer machen als es ohnehin schon war. Nadiri hatte recht behalten. Es gab noch Essen im Kühlschrank über das wir uns her machten wie drei hungrige Wölfe. Nadiri verabschiedete sich kurz darauf und ich lotste den betrunkenen Liam zu mir ins Zimmer. Jadoo war offenbar nicht da. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass er höchstwahrscheinlich nicht mehr auftauchen würde. Zur Sicherheit nahm ich seine und meine Matratze und legte sie auf den Boden. Sollte mein großer Bruder nach Hause kommen, so könnte er sich wenigstens zu uns legen und musste nicht auf dem Sofa schlafen. Ich half Liam seine Schuhe auszuziehen, bevor ich mich selbst halb entkleidete um bequemer schlafen zu können.
„Du hast mich noch nie mit nach Hause genommen“, murmelte Liam in der Dunkelheit neben mir. Ich runzelte die Stirn und mein Mundwinkel zuckte zu einem angedeuteten Lächeln in die Höhe: „Stimmt.“ „Wir sind beste Freunde geworden“, lallte er weiter, „Du nimmst mich mit nach Hause.“ Wieder dieser Titel und einmal mehr fragte ich mich, ob es stimmte. Es fühlte sich zumindest so an und gleichzeitig auch nicht. Liam und ich beste Freunde? Das war auf so vielen Ebenen falsch und richtig zugleich, dass ich es nicht erst aufzählen wollte. Ich schüttelte schnell den Kopf.
„Sind wir nicht?“, fragte Liam traurig. Er hatte meine Bewegung wahrgenommen. „Doch“, sagte ich hastig und mir schlug das Herz bis zum Hals, „Doch sind wir. Wir sind beste Freunde.“ „Gut“, meinte Liam und zog mich an sich. Perplex ließ ich es geschehen. Als sich sein Arm um mich legte und ich seinen Herzschlag unter meinem Ohr wahrnehmen konnte legte sich wieder die wohltuende Decke aus Ruhe und Geborgenheit um mich. Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen, als sich meine Glieder sofort entspannten. „Gute Nacht…bester Freund“, flüsterte ich leise, da war Liam schon eingeschlafen.
Ich wurde am nächsten Morgen nicht von dem Sonnenlicht oder dem vorbei rasenden Zug geweckt, sondern von Liam, der wegen dieser Kombination aus dem Schlaf schreckte und senkrecht in die Höhe schoss. Ich öffnete blinzelnd die Augen. Zu erschrocken um nachzudenken, hatte ich mit einem Mal riesige Muskelpakete an den Armen, als müsse ich noch jemandem das Genick brechen. Liam sah sich einen Moment verwirrt im Zimmer um, dann entdeckte er mich und ihm wurde schneller bewusst, was er sah als ich mir bewusst wurde wie ich aussah. Verwirrt beobachtete ich, wie der Fuchs zuerst grinste und dann schallend zu lachen begann. „Cie“, presste er hervor und stupste meinen Arm an, „Deine Muskeln.“ Mehr schaffte es nicht zwischen seinen Lachern heraus. Ich blickte an mir herunter und verdrehte dann kurz die Augen. Sein Lachen war ansteckend, weshalb ich kichern musste. Wesentlich verhaltener als Liam. Wie als hätte man die Luft aus einem Ball gelassen, fielen meine Muskeln wieder in sich zusammen und ich saß wenig später so normal wie immer auf der Matratze.
Der Rotschopf grinste mich an: „Weißt du, irgendwie ist das eher lustig was du kannst und nicht beängstigend. Ich habe unglaublich viele Geistergeschichten von der Stadt gehört. Du könntest eine Attraktion werden damit.“ Ich wusste, dass Liam scherzte, dennoch bekam ich ein mulmiges Gefühl in der Magengegend und die altbewährte Angst trat langsam wieder hinter dem Gestrüpp hervor. Als hätte Liam in meinen Augen gelesen, wie meine Gefühle umschwangen, hob er sofort die Hände: „Hey das war ein Scherz. Ganz ruhig. Ich sage es niemandem.“ Ich nickte. Eigentlich wollte ich noch etwas sagen, als sachte an die Tür des Zimmers geklopft wurde und die Stimme meines Vaters durch das Holz drang: „Clemens, Frühstück ist fertig.“ „Oh man Frühstück. Ich habe das Gefühl zu verhungern“, kommentierte mein bester Freund und stand auf. „Du hast erst heute Nacht das halbe Essen aus unserem Kühlschrank gegessen“; erinnerte ich ihn witzelnd und folgte seinen Bewegungen. „Hey ich bin Basketballer, wir brauchen viel Essen. Liegt am Metabolismus“, entgegnete er und hielt mir die Hand hin um mir aufzuhelfen. Ich nahm sie an: „Das ist eine Standardausrede oder? Weißt du überhaupt was Metabolismus ist?“ Wir lachten leise.
Eigentlich hatte ich Liam fragen wollen, wieso er so große Angst gehabt hatte nach Hause zu fahren oder von der Polizei erwischt zu werden. Ich wollte die gute Stimmung nicht zerstören. Ich ging mit ihm zu unserem Esszimmertisch. Erleichtert sah ich, dass der Platz meiner Mutter frei war. Dann fiel mir ein, dass Vater mich nie zum Frühstück holte, wenn Mutter mit uns frühstücken würde. Ob er das für ihren Zustand oder meine Gesundheit tat, hatte ich noch nicht herausgefunden.
Ich wuschelte Ravi im Vorbeigehen durch die Haare als ich mich auf meinen Platz neben Nadiri setzte. Sie sah ebenso müde aus wie sonst, wenn sie auf einer Party gewesen war. Sie grinste uns fröhlich an. Kurz darauf setzte sich Jadoo zu uns. Er hatte im Wohnzimmer geschlafen und zwinkerte mir zu, als er nach den Pfannkuchen langte. „Wie war eure Feier gestern Abend“, fragte Vater da als er mir den Ahornsirup reichte. Ich spürte wie Liam neben mir zusammenzuckte. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, wie sich seine Augen weiteten und ich konnte den Anflug von Angst darin erkennen. Nervös spielte er mit der Gabel neben seinem Teller herum. „Gut“, antwortete ich schnell um ihn zu beruhigen, „Wir hatten viel Spaß.“ Vater nickte und häufte Essen auf seinen Teller: „Keine Schwierigkeiten?“ Nadiri schüttelte schnell den Kopf: „Nein es war wirklich nett. Nur ein bisschen Barbecue, nichts großes.“ Sie lächelte Liam aufmunternd zu. „Es freut mich, dass ihr Spaß hattet“, antwortete Vater und hob den Blick, „Schön dich kennen zu lernen Liam.“ Wieder ging ein Ruck durch den athletischen Körper des Rotschopfes, als er die dunklen Augen meines Vaters auf sich spürte und sein gewinnendstes Lächeln klettert auf seine Lippen: „Danke, dass ich hier schlafen durfte Mr. Dubois.“ „Ich habe von Gary gehört, dass die Polizei gestern bei Paxton gewesen ist. Alkohol und Drogen“, fuhr Vater fort ohne aufzusehen. Jadoo kickte mich unter dem Tisch und ich zuckte kopfschüttelnd mit den Schultern. „Das muss gewesen sein, nachdem wir wieder zu Hause waren“, versuchte es Nadiri, obwohl wir alle wussten, dass sich Vater nicht in die Irre führen ließ. „Schon gut, Kinder“, beschwichtigte er unsere Panik sofort, „Ich weiß wie es ist. Ich war auch mal Jung. Ich vertraue darauf, dass ihr bei dummen Entscheidungen zu mir kommt und mit mir sprecht.“ „Ja Vater“, sagten wir leise. Als ich den Blick hob und Liam anlächelte, sah er mich an, als wäre ich ein Alien. War Liams Vater nicht so freundlich, wenn es um Partys ging?
Am Tisch begann ein Gespräch über Nachrichten und witzige Geschichten, schließlich erzählte Nadiri sogar von Kyle und wie er von allen in seine Schranken gewiesen worden war. Es war mir peinlich, wie selbstverständlich meine Mobbingerfahrungen mit einem Mal in der Familie besprochen wurden. In einer Atmosphäre die sich so familiär anfühlte. Gerade als ich anfing mich zu entspannen und das Gefühl hatte eine sichere Umgebung gefunden zu haben in der ich endlich davon sprechen konnte, kam alles anders. Mutter war aufgestanden, geisterte vom Schlafzimmer über das Wohnzimmer zu uns in die Küche. Sie nahm sich ein Glas und schüttete es mit Bourbon voll. Abfällig blickte sie uns an: „Dieser kleine Bastard hat nichts anderes als Prügel verdient.“ Mutters Zunge schien bereits an ihrem Gaumen zu kleben. Ich spürte wie sich mein Magen zusammenzog. Sofort senkte ich den Blick, versuchte unsichtbar zu werden. Vielleicht würde sie gleich wieder gehen. „Anjali, bitte, wir haben Gäste“, versuchte Vater zu intervenieren und stand auf um ihr das Gals wegzunehmen, doch davon wollte Mutter nichts wissen. „Du verteidigst ihn? Diesen Dämon aus der Unterwelt? Diesen Fluch?“, zischte sie, das Glas umklammernd, als wäre es das Einzige, was sie noch davor bewahrte mich zu töten. „Es wäre besser du legst dich wieder hin“, sagte Vater sanft und es sah so aus, als würde Mutter auf ihn hören. Sie ging um die Kücheninsel herum, trat den Rückzug an. Dann warf sie das Glas. Ich war erstaunt über ihre Zielgenauigkeit, bedachte man, dass sie sicher schon eine Handvoll Tabletten geschluckt hatte. Das Glas schlug hart gegen meine Schläfe und Mutter war schneller bei mir als Vater sie festhalten konnte.
Ich schaltete ab. Ich wehrte mich nicht. Es war, als würde ich von der Zimmerdecke auf die Situation am Frühstückstisch hinuntersehen. Mutter war bei mir angelangt, sie riss mir ein Büschel Haare aus. Liam war aufgesprungen, Nadiri und Jadoo zurückgewichen, Ravi flüchtete weinend in den Schrank unter der Spüle. Vater folgte ihr, versuchte sie fest zu halten ohne sie zu verletzen. Sie schlug mir mit der Faust gegen das Auge. Glas grub sich in meine Haut, ihre Nägel zerkratzten meine Wange. Vaters Arme schlangen sich um Mutters Taille und er zog an ihr. Irgendwie hatte Mutter die Kraft einer Bärin die ihre Jungen verteidigen wollte, wenn sie versuchte ihre Wut an mir auszulasse. Sie schüttelte Vater ab und zog mich aus dem Stuhl. Ich schlug der Länge nach hin, während Liam in einer Schockstarre zusah. Ich machte ihm keinen Vorwurf. Dieses Horrorszenario musste schrecklich sein für ihn.
Ich beobachtete, wie Nadiri und Jadoo herumschrien. Wie meine Familie gegen meine Mutter kämpfte die mich zu der großen Truhe im Wohnzimmer zerrte, die als Wohnzimmertisch diente. Ich spürte nichts. Ich konnte sehen, wie Blut von meinem Kopf tropfte als sie diesen gegen die Kante der Truhe donnerte und versuchte mich darin einzusperren. Erst da schaffte es Vater wieder sie zu packen und von mir wegzuziehen. Jadoo trat zwischen uns. Verwunderung machte sich in mir breit. Jadoo hatte seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr versucht mir zu helfen. Und dann war da Liam. Er kniete an der Truhe, half mir auf den Wohnzimmerboden und sagte etwas, das ich nicht sofort verstand. Seine langen Finger tasteten meine Wange ab, dann meinen Kopf. „CieCie“, sagte er leise und ich konnte die Angst in seiner Stimme hören. Angst und Sorge. Welche Namen hatte Mutter wohl für mich verwendet? „Du blutest“, fügte er an und schob vorsichtig meine Haare zur Seite. „Schon gut“, bekam ich endlich heraus, so leise, dass er es nicht hören konnte. Nadiri kniete sich zu uns und legte eine Hand auf Liams Unterarm: „Keine Sorge, körperlich kann ihm nichts passieren. Wenn er das Blut abwäscht ist seine Haut wieder verheilt.“
Mit einem Schlag herrschte Stille im ganzen Haus. Das Ticken der Uhr war alles, was ich wirklich bemerkte. Dann die gedämpften Schluchzer aus dem Schlafzimmer und dem Küchenschrank. Jadoo nahm den Bourbon und trank in kräftigen Zügen daraus. Ich beobachtete, wie sich sein Adamsapfel bei jedem Schluck hob und senkte. Es war meine Schuld. Nur meinetwegen trank er. Nur meinetwegen war die ganze Familie kaputt. Ich schluckte schwer und schüttelte die helfenden Hände ab als ich aufstand. Ohne ein weiteres Wort zu sagen stolperte ich mit verschleiertem Blick zum Badezimmer und setzte mich unter die Dusche. Ich wünschte es wäre Säure die meine Haut zerfressen und mich endlich erlösen würde.
Die nächsten Tage ging ich Liam aus dem Weg. Zumindest versuchte ich es. Er zog mich mitunter an wie ein Magnet und ich wusste nicht wieso. War es das, was beste Freunde ausmachte? Georgina ließ ich an mir abprallen, obwohl mein Herz ein wenig schneller schlug, wenn sie in der Nähe war und ich mir manchmal vorstellte wie es sich anfühlen würde, wenn ihre Hände in meinen lagen. Dann erinnerte ich mich an das Frühstück am Samstag und was Liam mitbekommen hatte. Die Scham war so groß, dass ich mich beim Mittagessen auf dem Klo einschloss. Länger als zwei Tage ließ Liam das nicht zu. Er tauchte bei meinem Chemieclub auf und zog mich aus dem Raum. Ich wollte widersprechen, gleichzeitig war ich erleichtert, dass er nach mir sah. Dass er mich suchte und mich mitnahm. Er deutete mir in seinen Pickup zu steigen und fuhr schweigend los. Dass wir gerade die Schule schwänzten war mir mit einem Mal total egal. So wie schon auf der Party legte sich mit Liams Anwesenheit plötzlich Ruhe über mich. Eine so angenehme Ruhe, nach der ich langsam süchtig zu werden schien. Ich wusste nicht wohin wir fuhren, ich fragte nicht nach. Ich schwieg und genoss das Gefühl endlich wieder atmen zu können. Liam hielt schließlich in der Nähe des Sees an und schaltete den Motor aus. Er reichte mir eine Flasche Wasser und ein Sandwich und biss schweigend von seinem ab. Ich wusste nicht worauf er wartete. Ich wusste nicht, worauf ich wartete. Schweigend begann ich zu essen. Die Mayonnaise hatte er mit Pfeffer gewürzt. Oder waren es Sandwich aus der Mensa?
„Ich habe dich vermisst“, hörte ich ihn endlich sagen. Verwundert hob ich die Augenbrauen und hatte Mühe mich nicht zu verschlucken. Liam wandte den Blick mir zu und seine jadegrünen Augen funkelten. „Ja das kannst du ruhig glauben“, meinte er und legte eines seiner langen Beine auf der Armatur ab, „Ich habe dich vermisst. Himmel wieso gehst du mir aus dem Weg? Wir sind beste Freunde oder etwa nicht?“ „Sind wir?“, fragte ich leise und sah beschämt auf meine Hände. „Von meiner Seite aus schon ja“, ich konnte hören, dass ihn meine Frage verletzt hatte. Wieder hob ich den Blick: „Tut mir leid…tut mir leid ich wollte dir nicht weh tun.“ Ich spürte wieder einen Kloß im Hals. Er nickte und dann kletterte ein sanftes Lächeln auf seine Lippen: „Du hast dich geschämt, habe ich recht?“ Erneut wandte ich den Blick ab, sah auf die sinkende Sonne und die weite Ebene hinter dem See. Dann nickte ich. „Ich hatte solche Angst um dich, Clemens“, hörte ich seine Stimme wieder nach einer Weile, „Das am Samstag…deine Mutter…ich meine…ist das immer so?“ Wieder nickte ich. Ich konnte meine Stimme nicht mehr finden. Und dieser Kloß schnürte mir die Luft ab. „Hey“, Liam stupste mich an und wie mechanisch drehte ich meinen Kopf um ihn anzusehen, „Es tut mir leid. Es tut mir wahnsinnig leid, dass ich nichts getan habe. Ich wusste nicht mehr wie man sich bewegt. Ich wusste nicht…wieso hast du nie etwas gesagt?“ Eine Weile ließ er den Satz in der Luft zwischen uns hängen wie ein Pendel, dann schüttelte er den Kopf: „So eine blöde Frage. Ich hätte auch nichts gesagt. Wie sagt man das auch? Aber…deine Mutter braucht Hilfe!“ Ich kniff die Lippen zusammen, dann sah ich wieder auf den See. Ich sammelte mich bevor ich weitersprach: „Sie hat recht. Ich bin ein Monster. Ein Dämon…Ich habe das alles nicht anders verdient.“ „Was redest du denn da?“, brauste Liam auf und ich konnte den Sitz unter ihm quietschen hören als er sich mir zuwandte, „Du bist kein Monster! Niemand hat es verdient so behandelt zu werden! Schon gar nicht von der eigenen Mutter! Wir können die Polizei einschalten, Ärzte. Es gibt sicher einen Weg wie wir dich da rausholen können.“ „Liam“, fiel ich ihm leise ins Wort. Ich hatte gedacht, dass es kaum zu hören war. Liam schien auf meine Reaktionen so sensibilisiert zu sein, dass er sofort schwieg. „Es ist okay…ich will nicht, dass die Polizei kommt. Meine Familie ist kaputt genug. Wenn ich auch noch…“, ich schüttelte den Kopf, „Mir kann niemand helfen.“ Ungläubig starrte der Rotschopf mich an: „Was? Warum?“ „Weil ich meine Schwester getötet habe“, sagte ich leise und wandte den Blick wieder ab. In dem kleinen Führerhaus des Pickups herrschte Stille. Kalte, angsterfüllte Stille. Dann räusperte sich Liam: „Du hast…aber es heißt, dass es ein Unfall war. Wie sollst du sie getötet haben?“ „Ist okay Liam…du musst nicht mit mir befreundet sein“, antwortete ich, öffnete die Seitentür des Pickups und stieg aus. Ich würde zurücklaufen. Laufen tat gut. Das Metall gab ein hässliches Geräusch von sich, als ich es mit den Klauen an meiner Hand zuwarf. Hatte ich gerade Liams Wagen zerkratzt? Das würde teuer werden.
Ich blickte nicht zurück, als ich davon ging. Wer wollte schon einem Mörder helfen? Alles was Mutter mir antat hatte ich verdient. Nichts davon war unbegründet. Ich war für den Tod ihrer geliebten Tochter verantwortlich. Und ich gehörte bestraft. Tränen rannen mir über die Wangen als ich die Hand um Sillas Lapislazuli schloss. Ich hörte Schritte hinter mir und noch bevor Liams Hand auf meiner Schulter landete blieb ich stehen.
Silla.
Sillas Todestag. Ich konnte nicht nach Hause. Morgen war sie zwei Jahre tot. Zwei Jahre.
Die Erkenntnis traf mich wie einer von Kyles Tritten in den Magen und mir wurde schlecht.
„Clemens, warte“, hörte ich Liams Stimme als ich in die Knie ging. Seine Hand landete in der leeren Luft. Er war nicht schnell genug mich aufzuhalten. Ich spürte wie mir die Magensäure und die Tränen im Hals stachen, dann übergab ich mich. Der Basketballer stand einen Moment neben mir, nicht wissend, was er tun sollte, dann strich er mir sanft über den Kopf, liebevoll, und wartete bis ich fertig war und nichts mehr in meinem Magen übrig war. Von irgendwo zauberte er eine Wasserflasche hervor und wartete bis ich mir den Mund ausgespült hatte. Dann nahm er mich sanft mit zurück zu seinem Wagen. Wir setzten uns auf die Ladefläche und blickten auf die Landschaft.
„Ich komme nicht ganz mit“, gestand mir Liam nach einer Weile in der ich nur neben ihm gesessen und apathisch ins Nichts gestarrt hatte. „Du sollst deine Schwester getötet haben? Liegt das an diesem…Mutationsding? Du bist kein Mörder, oder?“, ich spürte seinen Blick auf mir und irgendetwas in mir brach auf. Vielleicht eine Narbe, vielleicht hatte Liam einfach nur einen besonderen Schlüssel gefunden. „Ich war 14 gewesen“, hörte ich meine raue belegte Stimme, als wäre es nicht meine Eigene. „Jadoo und Bhajan…meine älteren Brüder…sie wollten eines unserer Videos drehen. Und Silla hatte mitspielen wollen.“ Die ersten Worte kamen mir so schwer über die Lippen, als wären sie stachelige Bleikugeln die mir die Zunge aufschlitzten. Mit jedem Wort wurde es leichter und leichter. Ich erzählte Liam von dem Tag an dem Sillas Lachen erloschen war. Von dem Tag an dem ich nichts hatte ausrichten können. Ich erzählte ihm von dem Davor.
Es fühlte sich seltsam an, weil ich zum ersten Mal nicht darauf achten musste, was ich sagte. Miss Auberny wusste nichts von meiner besonderen Fähigkeit. Ich hatte alles, was ich mit ihr besprochen hatte, anders formulieren müssen. Mit Liam war das anders. Es sprudelte aus mir heraus, wie Wasser aus einem Stausee. Liam hörte mir schweigend zu. Wenn ich weinte, dann nahm er mich in den Arm. Wenn ich wütend wurde ließ er mich neben ihm herum zappeln. Ab und Zu strich er mir kurz über die Schulter, um mir zu zeigen, dass er noch da war. Ich hatte längst mit Sillas Tod geendet. Die Geschichten, wie ich seitdem behandelt wurde, der Versuch zu sterben und der unbändige Wunsch dieser Horror sei ein Traum oder einfach vorbei, sprudelten weiter aus mir hervor. Unaufhaltsam. Als meine Stimme versiegte waren die ersten Sterne am Himmel erschienen. „Ich kann nicht nach Hause“, flüsterte ich nach einer Weile der Stille und wischte mir mit dem Handrücken über die Wangen, „Morgen ist ihr Todestag.“ „Dann kommst du jetzt mit zu mir“, sagte Liam als wäre es das selbstverständlichste. Ich runzelte die Stirn und blickte zu ihm auf: „Du willst mich bei dir haben?“ „Clemens“, meinte er ernst, stand auf und stellte sich vor mich. Er schob meine Beine auseinander, sodass er mir tief in die Augen sehen konnte. Seine Hände rechts und links von meiner Hüfte auf der Ladefläche abgelegt. Diese grünen Jadeperlen, die mich so verzauberten. Ich schluckte schwer. Meine Hände wurden feucht und da war schon wieder dieses kribbeln in der Magengegend. Liam der griechische Gott, der Fuchs der Götter, schoss es mir durch den Kopf. „Clemens“, sagte er noch einmal und ich konnte in seinen Augen die Ehrlichkeit erkennen mit der er die nächsten Worte sagen würde, „Du bist mein bester Freund und ich möchte dich immer bei mir haben. Ich bin so schrecklich froh, dass du hier bist und dass du mein bester Freund bist.“ Ich blinzelte. Es hatte mir die Sprache verschlagen. Da war etwas in der Luft, eine greifbare Spannung die ich nicht benennen konnte. Ein sanftes Lächeln und ein Funkeln in Liams Augen, welches ich nicht einordnen konnte. Der Rotschopf löste diese Verbindung als er zurücktrat und ich spürte wie meine Hand vorzuckte, als wollte ich verhindern, dass dieser Moment zerriss. „Und jetzt kommst du mit zu mir. Es gibt bald Abendessen, wenn wir nicht schon zu spät sind“, er zog mich von der Ladefläche, hielt mir die Tür seines Pickups auf und fuhr mit mir zurück nach Swadeswan Lake. Mein Kopf fühlte sich an wie Watte. Ich schob das auf meine Erschöpfung. Ja, ich war definitiv erschöpft. Anders konnte ich mir meine Reaktionen nicht erklären.
Liams Haus war viel größer als es für eine einzelne Familie gut war. Ich erinnerte mich daran, wie wir früher an dem leerstehenden Gebäude vorbei gefahren waren. Es gab zahlreiche Spukgeschichten darüber, dass die Gründerväter hier einst geheime Treffen und Rituale abgehalten hatten, was schließlich dazu führte, dass sie Swadeswan Lake verließen und jeder, der das Haus betrat verflucht werden würde. Das Hansborough-Haus war eine der angesagtesten Touristenattraktionen für Geisterjäger.
Ich blickte die Fassade hinauf und folgte mit meinen dunklen Augen dem Weg, den der Efeu sich an den Fenstern vorbei gesucht hatte. Es wirkte so herrschaftlich, dass ich mich klein fühlte. „Komm“, sagte Liam und nahm kurz meine Hand, nachdem er mir Zeit gegeben hatte das Haus zu betrachten. Ich folgte ihm, den Kopf in den Nacken gelegt. Die Dachziegel waren noch richtige Ziegel aus der Ziegelgrube in der Nachbarstadt. Als wir eintraten schlug uns angenehmer Essensgeruch entgegen. „Mom, Dad? Ich bin zurück. Ich habe Clemens mitgebracht, ich hoffe das ist in Ordnung“, rief er, als er seine Schuhe auszog. Ich tat es ihm gleich und schlich ihm dann hinterher zum Esszimmer. Feines Silber und chinesisches Porzellan stand dort, gefüllt mit Essen, das meinen Magen grummeln ließ. Das hier war eine andere Welt.
Liams Mutter war eine kleine Frau mit hellblonden Haaren. Ihre Augenbrauen wirkten durchsichtig und ihre Augen leuchteten in einem blassen Grün, als sie sich zu uns umdrehte. Sie kochte in Business Dress, was mich verwunderte. Der Anblick einer kochenden Mutter war mir so fremd geworden, dass es mich erschreckte. „Clemens“, sagte sie mit einem melodischen Akzent den ich nicht einordnen konnte, „Willkommen! Liam hat mir schon so viel von dir erzählt. Es freut mich, dass du endlich zu Besuch kommst.“ Ich beobachtete, wie Liam seiner Mutter einen Kuss auf die Wange gab und sie ihm einen Klaps auf die Finger, als er aus dem Topf probieren wollte. Mein Mundwinkel zuckte kurz zu einem angedeuteten Lächeln als ich diese mütterliche Liebe sah. Dieses familiäre Miteinander. Gerade, als sich der Schmerz darüber in mir ausbreiten wollte, klopfte mir eine Pranke auf den Rücken und ich stolperte nach vorne. „Hallo, Jungs! Clemens, schön dich endlich kennen zu lernen“, sagte der korpulentere Mann. Er war so rund wie ein Medizinball aus der Schule und schüttelte meinen Arm so heftig, dass mein gesamter Körper mitgeschüttelt wurde. „Dein Vater ist einer meiner besten Mitarbeiter. Es ist toll, dass ihr euch anfreundet“, fuhr er fort und ließ mir kaum Zeit zu antworten. Ich nickte, was bei dem Zappeln meines Körpers sicher unterging. „Dad, jetzt lass ihn mal los, bevor du ihn noch in einen deiner Arbeiter am Presslufthammer verwandelst“, kam mir Liam zur Hilfe und verkniff sich ein Kichern.
Ich schenkte ihm einen kurzen tadelnden Blick, dann steckte mich sein freches Grinsen an und ich lächelte leicht nervös zurück. „Genug Schabernack, Jungs“, tadelte da Mrs. Hansborough und deutete auf den gedeckten Tisch, „Händewaschen und hinsetzen. Wir haben heute endlich einmal alle Zeit zusammen zu essen.“ „Danke, dass ich mitessen darf, Mrs. Hansborough“, sagte ich endlich. Sie gab mir mit einer Geste zu verstehen, dass mein Dank nicht nötig war. Stattdessen drückte sie mir die Soße in die Hand und deutete mir sie auf den Tisch zu stellen. Ich half mit den restlichen Speisen und setzte mich dann auf den freien Platz neben Liam. Stumm lauschte ich dem Austausch von Liams Eltern und ihm. Sie waren interessiert an seinem Leben und er beteiligte sie. Wieder fragte ich mich, wieso Liam solche Angst vor der Polizei gehabt hatte. Oder eher, dass sein Vater es herausgefunden hätte. Aber meine Verwunderung wurde schon bald gestillt.
Als einen Moment Stille am Tisch einkehrte und für eine Weile nur das Kauen der Kiefer und das Schaben des Bestecks zu hören gewesen war, räusperte sich Mr. Hansborough: „Also Liam, ich habe gehört du verbesserst dich in deinem Französisch. Ich bin stolz auf dich, mein Junge.“ „Danke Dad“, entgegnete Liam und ich spürte, wie er sich anspannte, als warte er auf etwas unangenehmes. Eine Reaktion, die ich nicht sofort verstand, da fuhr sein Vater fort: „Coach Viviani hat mir gesagt, dass du das Training geschwänzt hast und ich habe von Gerüchten gehört, nach denen du dich auf der Party von Paxton mit diesem Kyle geprügelt hast bevor die Polizei aufgetaucht ist. Officer Mekkie hat deinen Pickup erkannt.“ Mit einem Mal schien die Stimmung am Tisch zu kippen. „Möchtest du mir dazu etwas sagen, Liam?“ Der strenge Ton seines Vaters ließ meine Hände schwitzig werden. Bekam Liam jetzt meinetwegen Ärger? Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich blickte nur auf meinen Teller, als könnte ich die Erbsen durch pure Willenskraft dazu bringen sich zu bewegen. Liam hatte den Kopf gesenkt: „Nein Dad. Ich kann dazu nichts sagen.“ „Ich bin enttäuscht, Liam. Du hast eine Verantwortung unserer Familie gegenüber. Mit diesem Namen solltest du keine Prügel anfangen. Wie stehe ich dann vor der Stadt da?!“, fragte Liams Vater aufgebracht und setzte zu etwas an, was ich nur als Schimpftirade interpretieren konnte. Auch wenn mir Schimpfen in einer so zivilen Art nicht bekannt war. Gerade als er Luft holte hörte ich mich räuspern. Alle Augen fielen plötzlich auf mich und ich spürte, wie mir vor Scham und Angst heiß wurde. Nicht jetzt. Konzentrier dich, schoss es mir durch den Kopf als ich dieses altbekannte Gefühl hatte, dass mein Körper gleich explodieren würde. „Ich“, begann ich, verlor dann meine Stimme. „Was möchtest du sagen, Clemens?“, fragte mich Mrs. Hansborough als mich alle eine Weile angesehen hatten. Ihre Stimme war so sanft, dass ich mich zusammen nehmen musste nicht zu weinen. Wann hatte meine Mutter so mit mir gesprochen? „Liam hat nicht einfach so jemanden geschlagen. Kyle hat mich angegriffen und Liam hat mich verteidigt. Er…hat Zivilcourage gezeigt. Darauf…darauf können Sie stolz sein“, brachte ich stockend über die Lippen. Wieder breitete sich Stille aus, dann sah Liams Vater den Fuchs streng an: „Ist das wahr?“ Nur langsam nickte Liam. Den Kopf eingezogen, als erwarte er ein Donnerwetter. „Wieso hast du das nicht gleich gesagt Junge?“, brach sein Vater wieder das Schweigen, „Dann hätte ich mir meinen Vortrag ja sparen können! Du hast die Polizei anonym gerufen. Siehst du, Mary? Wir haben unseren Sohn richtig erzogen. Solchen Bullys muss man schon früh das Handwerk legen.“ Zufrieden aß Liams Vater weiter, nachdem Mary ihm zugestimmt hatte. Mein Blick huschte zu Liam. Er lächelte und ich konnte die Dankbarkeit in seinem Blick erkennen, bevor sich das Gespräch mit einem Mal wieder um Basketball und bevorstehende Spiele drehte. Es dauerte eine Weile, dann stieg ich in die Unterhaltung mit ein. Die Anspannung in meinem Inneren löste sich langsam. Liams Vater setzte ihn ganz schön unter Druck. Kein Wunder, dass der Rotschopf keine dunklen Flecken auf seiner Weste haben wollte.
Es fühlte sich an, als hätte ich einen bleiernen Anzug an. Ein Anzug so schwer, dass ich mir sicher war, wenn ich in den See springen würde, dann würde ich wie ein Stein unter gehen. Den ganzen Tag schon war ich wie ein Geist durch die Schulflure geschlichen, hatte mit niemandem gesprochen und niemanden angesehen. Als ich jetzt auf einer Bank vor dem einzigen Spielplatz unserer Kleinstadt saß, fragte ich mich, wo die Zeit geblieben war. Was hatte ich den ganzen Vormittag gemacht? Hatten wir Hausaufgaben?
„Weißt du noch, wie zwei Jahre niemand den Spielplatz betreten hat, weil wir alle glaubten, dass der Geist von Little Daisy hier herum spukt?“, fragte mich Nadiri mit einem Lachen in der Stimme. „Meine Güte, das war echt grausam. Erinnert ihr euch an die Geisterjäger die alles daran gesetzt haben den Spielplatz zu säubern?“, fügte Jadoo hinzu, den Arm locker um die Lehne der Bank gelegt. „Es war zum todlachen“, antwortete meine Zwillingsschwester. Beim Wort Todlachen zuckten wir alle kurz zusammen. Wir schwiegen, während wir ein Auge auf Ravi hatten, der mit ein paar Freunden über den Spielplatz stürmte und eine neue Art des Fangespielen ausübte. „Es war lustig mit anzusehen wie sie Fallen aufgestellt haben“, sagte ich endlich mit rauer Stimme als ich die Stille nicht mehr aushielt. „Und dann haben sie nichts anderes gefangen als einen Fuchs“, kommentierte Jadoo und wir drei lachten halbherzig.
Sillas Todestag war eine unglaublich unangenehme Kombination aus allen Gefühlen die wir nicht richtig verstanden. Liebe und Trauer, Angst und Freude. Durften wir lachen oder war es zu früh? Sollten wir weinen? Etwas spezielles für Silla tun? Ich schloss die Hand um ihren Lapislazuli. Zwei Jahre war es her. Reichte es aus, dass ich jeden Tag an sie dachte und um Vergebung bat? Eine Absolution, die ich niemals erhalten würde. „Wir fahren um drei zum Grab“, sagte Jadoo endlich und sah mich an, „Ich könnte dich mitnehmen. Barry hat mir sein Wagen geliehen. Dann musst du nicht mit Mutter fahren.“ Ich schluckte, dann schüttelte ich den Kopf: „Es ist besser, wenn ich nicht mitkomme. Ich gehe heute Abend, wenn ihr wieder zu Hause seid.“ Ich wusste, dass Nadiri Jadoo einen traurigen Blick zuwarf. Wir alle drei wussten, dass Mutter mich den ganzen Tag umzubringen versuchen würde, wenn ich mich zeigte. Letztes Jahr war ich ihr zuvorgekommen.
Als ich Jadoos Arm um meine Schultern spürte sah ich ihn verwundert an. Er blickte nur geradeaus, beobachtete Ravi und sagte nichts. Er strich mir leicht über den Oberarm um mich zu beruhigen. Eine unscheinbare Geste, doch ich wusste, für Jadoo bedeutete sie die Welt. „Hast du schon Antworten von den Universitäten bekommen?“, fragte Nadiri ihn um das Thema zu wechseln. Und da begriff ich, dass Jadoo bald nicht mehr zu Hause sein würde. Er würde ausziehen und diese Hölle verlassen, so wie es Bhajan, Amar und Devi getan hatten. Es war nur eine Vermutung. Ich war mir sicher, dass er Angst hatte uns zurück zu lassen. Sein Zögern erschien mir nur noch mehr wie ein Zeichen zu sein, dass er uns beschützen wollte. Ein bitterer Gedanke tauchte in meinem Kopf auf: Zu spät. Das kommt viel zu spät.
Jadoo schüttelte den Kopf: „Ich habe mich nicht beworben. Ich werde nicht studieren. Aber mir wurde ein Job drüben in Barnsville angeboten. Den nehme ich wahrscheinlich an.“ „Barnsville“, fragte ich überrascht, „Das ist nur zwei Stunden Autofahrt von hier.“ „Genau“, bestätigte Jadoo ohne uns anzusehen. Ich blickte zu Nadiri und ein unausgesprochenes Gespräch fand zwischen uns statt. Wenn ich noch irgendwelche Zweifel gehabt hatte, dann waren sie jetzt verschwunden. Jadoo wollte uns nicht alleine lassen. Er wollte nicht zu Hause bleiben, doch in der Nähe um uns zur Not zu helfen. „Ihr könnt mich jederzeit besuchen kommen“, fügte er an und klopfte mir auf die Schulter, bevor er seinen Arm zurückzog. Er rief Ravi und forderte ihn zum Gehen auf, bevor er aufstand. „Komm spät nach Hause, Kleiner“, sagte er zu mir und wuschelte mir durch die Haare, „Ich hebe dir Essen auf.“ Nadiri seufzte und ich konnte sehen, wie sie die Tränen unterdrückte: „Das ist alles nicht fair.“ „Sagt Silla hallo von mir“, entgegnete ich nur und drückte Ravi kurz an mich, der sich fröhlich in meine Arme geworfen hatte. „Sei lieb zu deinen Geschwistern, ja Rav?“, ermahnte ich ihn, bevor ich den drei zusah, wie sie davon gingen. Sie würden zu Silla gehen, ihre Gedanken teilen und eine Familie sein. Ohne mich. Und so sehr ich mir einredete, dass das in Ordnung war, ich wusste tief in mir, dass ich sie alle ein wenig hasste, dass ich nicht mehr Teil von ihnen sein konnte.
Ich war so tief in Gedanken und Gefühlen versunken, dass ich Liam nicht bemerkte, der sich neben mich setzte. Erst als er mich anstupste zuckte ich zusammen, machte einen Satz und wäre mit dem Gesicht voran im Sandkasten gelandet, hätte Liam nicht geistesgegenwärtig nach meinem Arm gegriffen. „Hey hey, Vorsicht!“, rief er aus, „Entschuldige ich wollte dich nicht erschrecken.“ „Himmel noch eins“, stieß ich aus und versuchte mein rasendes Herz zu beruhigen. „Was machen wir jetzt? Ich kann dich zum Grab fahren und wir warten bis deine Familie weg ist“, schlug er vor. Ich schüttelte den Kopf. „Nein, danke Liam. Ich glaube ich will einfach etwas machen, bei dem ich mich ablenken kann.“
Einen Moment überlegte Liam, dann lächelte er wieder: „Was hältst du davon, wenn wir zu mir gehen, ein paar Sachen einpacken und dann in die Wüste fahren? Wir könnten uns um deine Mutation kümmern. Mein Dad hat komischen Kram, seit er mit der Arbeit hier angefangen hat. Davon können wir sicher was ausleihen.“ Ich runzelte die Stirn: „Was?“ „Na irgendwann musst du ja wohl anfangen das zu trainieren oder? Wir können nicht herumlaufen und hoffen, dass du nicht jedes Mal wie ein Gestaltwandler deinen Körper änderst, nur weil du gerade Wütend bist oder Angst hast“, gab er zurück. Liam schlug tatsächlich vor, dass wir trainieren sollten. Trainieren, diesen Fluch zu verstehen und vielleicht endlich kontrollieren zu können. Einen Moment blickte ich auf meine Füße. Was würde es bedeuten, wenn ich nicht mehr willkürlich in ein Monster ausartete? „Überleg doch mal“, sagte Liam da, als hätte er meine Gedanken gelesen, „Wie einfacher wäre die Welt, wenn du das alles besser kontrollieren könnte? Ein Leben ohne Angst, aber mit Superkraft. Was du alles machen könntest, was du schon immer mal machen wolltest aber aus Angst nicht getan hast! Ich spreche von Freiheit, Cie! Freiheit! Willst du das nicht einmal erleben?“ Freiheit. Ein seltsames Wort. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. In mir sträubte sich etwas, aber da war diese leise sanfte Stimme. Sillas Stimme, die mir zuflüsterte, dass ich ein Held sein konnte und es wegwarf. Silla die mir zuflüsterte, dass ich es verdient hätte alles zu erleben. Ich strich über den Stein an meinem Hals, sagte nichts und lauschte nur dieser leisen Stimme in meinem Kopf, die zwischen Zustimmung und Hass hin und her schwankte wie ein Schiff, das von riesigen Wellen herumgeworfen wurde. Dann nickte ich: „Ja…ja lass es uns versuchen.“