Kapitel 6: Eine Freundschaft wie keine zuvor

Vaters Wagen parkte vor der Garage. Ich stellte Liams Pickup auf der Straße ab. Wir schwiegen und lauschten gebannt der Stille ob in der Ferne Sirenen zu hören sein würden. Die Fenster des Hauses waren dunkel und ich hörte das Blut in meinen Ohren rauschen. Es war nicht der Alkohol gewesen, der mich entspannt hatte. Es war Liam gewesen. Daran wollte ich in diesem Moment nicht denken. Ich zog den Schlüssel ab und seufzte erleichtert, als es überall still blieb. Nadiri war die erste, die wieder sprach: „Was für eine Party…lasst uns rein gehen. Es gibt glaube ich noch etwas vom Abendessen im Kühlschrank. So wie ich Vater kenne hat er auf jeden Fall etwas aufgehoben.“ Ich nickte stumm, während ich einen Blick zu Liam warf. Der Basketballer blickte aus dem Seitenfenster zu unserem Haus. Nachdenklich schien er zu sein. Da lag noch etwas anderes in der Luft das ich nicht benennen konnte. Ich riss mich von seinem Anblick los und öffnete die Tür.

Es stellte sich als mühseliger heraus als gedacht mit Liam durch den langen Hausflur zur Küche zu schleichen. Mutter würde sowieso nicht wach werden. Wir wussten, dass unser Vater am nächsten Morgen wieder zur Space Station gehen würde um dort zu arbeiten. Das neue Forschungsprogramm erforderte seine ganze Aufmerksamkeit und wir wollten es ihm nicht noch schwerer machen als es ohnehin schon war. Nadiri hatte recht behalten. Es gab noch Essen im Kühlschrank über das wir uns her machten wie drei hungrige Wölfe. Nadiri verabschiedete sich kurz darauf und ich lotste den betrunkenen Liam zu mir ins Zimmer. Jadoo war offenbar nicht da. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass er höchstwahrscheinlich nicht mehr auftauchen würde. Zur Sicherheit nahm ich seine und meine Matratze und legte sie auf den Boden. Sollte mein großer Bruder nach Hause kommen, so könnte er sich wenigstens zu uns legen und musste nicht auf dem Sofa schlafen. Ich half Liam seine Schuhe auszuziehen, bevor ich mich selbst halb entkleidete um bequemer schlafen zu können.

„Du hast mich noch nie mit nach Hause genommen“, murmelte Liam in der Dunkelheit neben mir. Ich runzelte die Stirn und mein Mundwinkel zuckte zu einem angedeuteten Lächeln in die Höhe: „Stimmt.“ „Wir sind beste Freunde geworden“, lallte er weiter, „Du nimmst mich mit nach Hause.“ Wieder dieser Titel und einmal mehr fragte ich mich, ob es stimmte. Es fühlte sich zumindest so an und gleichzeitig auch nicht. Liam und ich beste Freunde? Das war auf so vielen Ebenen falsch und richtig zugleich, dass ich es nicht erst aufzählen wollte. Ich schüttelte schnell den Kopf.

„Sind wir nicht?“, fragte Liam traurig. Er hatte meine Bewegung wahrgenommen. „Doch“, sagte ich hastig und mir schlug das Herz bis zum Hals, „Doch sind wir. Wir sind beste Freunde.“ „Gut“, meinte Liam und zog mich an sich. Perplex ließ ich es geschehen. Als sich sein Arm um mich legte und ich seinen Herzschlag unter meinem Ohr wahrnehmen konnte legte sich wieder die wohltuende Decke aus Ruhe und Geborgenheit um mich. Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen, als sich meine Glieder sofort entspannten. „Gute Nacht…bester Freund“, flüsterte ich leise, da war Liam schon eingeschlafen.

Ich wurde am nächsten Morgen nicht von dem Sonnenlicht oder dem vorbei rasenden Zug geweckt, sondern von Liam, der wegen dieser Kombination aus dem Schlaf schreckte und senkrecht in die Höhe schoss. Ich öffnete blinzelnd die Augen. Zu erschrocken um nachzudenken, hatte ich mit einem Mal riesige Muskelpakete an den Armen, als müsse ich noch jemandem das Genick brechen. Liam sah sich einen Moment verwirrt im Zimmer um, dann entdeckte er mich und ihm wurde schneller bewusst, was er sah als ich mir bewusst wurde wie ich aussah. Verwirrt beobachtete ich, wie der Fuchs zuerst grinste und dann schallend zu lachen begann. „Cie“, presste er hervor und stupste meinen Arm an, „Deine Muskeln.“ Mehr schaffte es nicht zwischen seinen Lachern heraus. Ich blickte an mir herunter und verdrehte dann kurz die Augen. Sein Lachen war ansteckend, weshalb ich kichern musste. Wesentlich verhaltener als Liam. Wie als hätte man die Luft aus einem Ball gelassen, fielen meine Muskeln wieder in sich zusammen und ich saß wenig später so normal wie immer auf der Matratze.

Der Rotschopf grinste mich an: „Weißt du, irgendwie ist das eher lustig was du kannst und nicht beängstigend. Ich habe unglaublich viele Geistergeschichten von der Stadt gehört. Du könntest eine Attraktion werden damit.“ Ich wusste, dass Liam scherzte, dennoch bekam ich ein mulmiges Gefühl in der Magengegend und die altbewährte Angst trat langsam wieder hinter dem Gestrüpp hervor. Als hätte Liam in meinen Augen gelesen, wie meine Gefühle umschwangen, hob er sofort die Hände: „Hey das war ein Scherz. Ganz ruhig. Ich sage es niemandem.“ Ich nickte. Eigentlich wollte ich noch etwas sagen, als sachte an die Tür des Zimmers geklopft wurde und die Stimme meines Vaters durch das Holz drang: „Clemens, Frühstück ist fertig.“ „Oh man Frühstück. Ich habe das Gefühl zu verhungern“, kommentierte mein bester Freund und stand auf. „Du hast erst heute Nacht das halbe Essen aus unserem Kühlschrank gegessen“; erinnerte ich ihn witzelnd und folgte seinen Bewegungen. „Hey ich bin Basketballer, wir brauchen viel Essen. Liegt am Metabolismus“, entgegnete er und hielt mir die Hand hin um mir aufzuhelfen. Ich nahm sie an: „Das ist eine Standardausrede oder? Weißt du überhaupt was Metabolismus ist?“ Wir lachten leise.

Eigentlich hatte ich Liam fragen wollen, wieso er so große Angst gehabt hatte nach Hause zu fahren oder von der Polizei erwischt zu werden. Ich wollte die gute Stimmung nicht zerstören. Ich ging mit ihm zu unserem Esszimmertisch. Erleichtert sah ich, dass der Platz meiner Mutter frei war. Dann fiel mir ein, dass Vater mich nie zum Frühstück holte, wenn Mutter mit uns frühstücken würde. Ob er das für ihren Zustand oder meine Gesundheit tat, hatte ich noch nicht herausgefunden.

Ich wuschelte Ravi im Vorbeigehen durch die Haare als ich mich auf meinen Platz neben Nadiri setzte. Sie sah ebenso müde aus wie sonst, wenn sie auf einer Party gewesen war. Sie grinste uns fröhlich an. Kurz darauf setzte sich Jadoo zu uns. Er hatte im Wohnzimmer geschlafen und zwinkerte mir zu, als er nach den Pfannkuchen langte. „Wie war eure Feier gestern Abend“, fragte Vater da als er mir den Ahornsirup reichte. Ich spürte wie Liam neben mir zusammenzuckte. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, wie sich seine Augen weiteten und ich konnte den Anflug von Angst darin erkennen. Nervös spielte er mit der Gabel neben seinem Teller herum. „Gut“, antwortete ich schnell um ihn zu beruhigen, „Wir hatten viel Spaß.“ Vater nickte und häufte Essen auf seinen Teller: „Keine Schwierigkeiten?“ Nadiri schüttelte schnell den Kopf: „Nein es war wirklich nett. Nur ein bisschen Barbecue, nichts großes.“ Sie lächelte Liam aufmunternd zu. „Es freut mich, dass ihr Spaß hattet“, antwortete Vater und hob den Blick, „Schön dich kennen zu lernen Liam.“ Wieder ging ein Ruck durch den athletischen Körper des Rotschopfes, als er die dunklen Augen meines Vaters auf sich spürte und sein gewinnendstes Lächeln klettert auf seine Lippen: „Danke, dass ich hier schlafen durfte Mr. Dubois.“ „Ich habe von Gary gehört, dass die Polizei gestern bei Paxton gewesen ist. Alkohol und Drogen“, fuhr Vater fort ohne aufzusehen. Jadoo kickte mich unter dem Tisch und ich zuckte kopfschüttelnd mit den Schultern. „Das muss gewesen sein, nachdem wir wieder zu Hause waren“, versuchte es Nadiri, obwohl wir alle wussten, dass sich Vater nicht in die Irre führen ließ. „Schon gut, Kinder“, beschwichtigte er unsere Panik sofort, „Ich weiß wie es ist. Ich war auch mal Jung. Ich vertraue darauf, dass ihr bei dummen Entscheidungen zu mir kommt und mit mir sprecht.“ „Ja Vater“, sagten wir leise. Als ich den Blick hob und Liam anlächelte, sah er mich an, als wäre ich ein Alien. War Liams Vater nicht so freundlich, wenn es um Partys ging?

Am Tisch begann ein Gespräch über Nachrichten und witzige Geschichten, schließlich erzählte Nadiri sogar von Kyle und wie er von allen in seine Schranken gewiesen worden war. Es war mir peinlich, wie selbstverständlich meine Mobbingerfahrungen mit einem Mal in der Familie besprochen wurden. In einer Atmosphäre die sich so familiär anfühlte. Gerade als ich anfing mich zu entspannen und das Gefühl hatte eine sichere Umgebung gefunden zu haben in der ich endlich davon sprechen konnte, kam alles anders. Mutter war aufgestanden, geisterte vom Schlafzimmer über das Wohnzimmer zu uns in die Küche. Sie nahm sich ein Glas und schüttete es mit Bourbon voll. Abfällig blickte sie uns an: „Dieser kleine Bastard hat nichts anderes als Prügel verdient.“ Mutters Zunge schien bereits an ihrem Gaumen zu kleben. Ich spürte wie sich mein Magen zusammenzog. Sofort senkte ich den Blick, versuchte unsichtbar zu werden. Vielleicht würde sie gleich wieder gehen. „Anjali, bitte, wir haben Gäste“, versuchte Vater zu intervenieren und stand auf um ihr das Gals wegzunehmen, doch davon wollte Mutter nichts wissen. „Du verteidigst ihn? Diesen Dämon aus der Unterwelt? Diesen Fluch?“, zischte sie, das Glas umklammernd, als wäre es das Einzige, was sie noch davor bewahrte mich zu töten. „Es wäre besser du legst dich wieder hin“, sagte Vater sanft und es sah so aus, als würde Mutter auf ihn hören. Sie ging um die Kücheninsel herum, trat den Rückzug an. Dann warf sie das Glas. Ich war erstaunt über ihre Zielgenauigkeit, bedachte man, dass sie sicher schon eine Handvoll Tabletten geschluckt hatte. Das Glas schlug hart gegen meine Schläfe und Mutter war schneller bei mir als Vater sie festhalten konnte.

Ich schaltete ab. Ich wehrte mich nicht. Es war, als würde ich von der Zimmerdecke auf die Situation am Frühstückstisch hinuntersehen. Mutter war bei mir angelangt, sie riss mir ein Büschel Haare aus. Liam war aufgesprungen, Nadiri und Jadoo zurückgewichen, Ravi flüchtete weinend in den Schrank unter der Spüle. Vater folgte ihr, versuchte sie fest zu halten ohne sie zu verletzen. Sie schlug mir mit der Faust gegen das Auge. Glas grub sich in meine Haut, ihre Nägel zerkratzten meine Wange. Vaters Arme schlangen sich um Mutters Taille und er zog an ihr. Irgendwie hatte Mutter die Kraft einer Bärin die ihre Jungen verteidigen wollte, wenn sie versuchte ihre Wut an mir auszulasse. Sie schüttelte Vater ab und zog mich aus dem Stuhl. Ich schlug der Länge nach hin, während Liam in einer Schockstarre zusah. Ich machte ihm keinen Vorwurf. Dieses Horrorszenario musste schrecklich sein für ihn.

Ich beobachtete, wie Nadiri und Jadoo herumschrien. Wie meine Familie gegen meine Mutter kämpfte die mich zu der großen Truhe im Wohnzimmer zerrte, die als Wohnzimmertisch diente. Ich spürte nichts. Ich konnte sehen, wie Blut von meinem Kopf tropfte als sie diesen gegen die Kante der Truhe donnerte und versuchte mich darin einzusperren. Erst da schaffte es Vater wieder sie zu packen und von mir wegzuziehen. Jadoo trat zwischen uns. Verwunderung machte sich in mir breit. Jadoo hatte seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr versucht mir zu helfen. Und dann war da Liam. Er kniete an der Truhe, half mir auf den Wohnzimmerboden und sagte etwas, das ich nicht sofort verstand. Seine langen Finger tasteten meine Wange ab, dann meinen Kopf. „CieCie“, sagte er leise und ich konnte die Angst in seiner Stimme hören. Angst und Sorge. Welche Namen hatte Mutter wohl für mich verwendet? „Du blutest“, fügte er an und schob vorsichtig meine Haare zur Seite. „Schon gut“, bekam ich endlich heraus, so leise, dass er es nicht hören konnte. Nadiri kniete sich zu uns und legte eine Hand auf Liams Unterarm: „Keine Sorge, körperlich kann ihm nichts passieren. Wenn er das Blut abwäscht ist seine Haut wieder verheilt.“

Mit einem Schlag herrschte Stille im ganzen Haus. Das Ticken der Uhr war alles, was ich wirklich bemerkte. Dann die gedämpften Schluchzer aus dem Schlafzimmer und dem Küchenschrank. Jadoo nahm den Bourbon und trank in kräftigen Zügen daraus. Ich beobachtete, wie sich sein Adamsapfel bei jedem Schluck hob und senkte. Es war meine Schuld. Nur meinetwegen trank er. Nur meinetwegen war die ganze Familie kaputt. Ich schluckte schwer und schüttelte die helfenden Hände ab als ich aufstand. Ohne ein weiteres Wort zu sagen stolperte ich mit verschleiertem Blick zum Badezimmer und setzte mich unter die Dusche. Ich wünschte es wäre Säure die meine Haut zerfressen und mich endlich erlösen würde.

Die nächsten Tage ging ich Liam aus dem Weg. Zumindest versuchte ich es. Er zog mich mitunter an wie ein Magnet und ich wusste nicht wieso. War es das, was beste Freunde ausmachte? Georgina ließ ich an mir abprallen, obwohl mein Herz ein wenig schneller schlug, wenn sie in der Nähe war und ich mir manchmal vorstellte wie es sich anfühlen würde, wenn ihre Hände in meinen lagen. Dann erinnerte ich mich an das Frühstück am Samstag und was Liam mitbekommen hatte. Die Scham war so groß, dass ich mich beim Mittagessen auf dem Klo einschloss. Länger als zwei Tage ließ Liam das nicht zu. Er tauchte bei meinem Chemieclub auf und zog mich aus dem Raum. Ich wollte widersprechen, gleichzeitig war ich erleichtert, dass er nach mir sah. Dass er mich suchte und mich mitnahm. Er deutete mir in seinen Pickup zu steigen und fuhr schweigend los. Dass wir gerade die Schule schwänzten war mir mit einem Mal total egal. So wie schon auf der Party legte sich mit Liams Anwesenheit plötzlich Ruhe über mich. Eine so angenehme Ruhe, nach der ich langsam süchtig zu werden schien. Ich wusste nicht wohin wir fuhren, ich fragte nicht nach. Ich schwieg und genoss das Gefühl endlich wieder atmen zu können. Liam hielt schließlich in der Nähe des Sees an und schaltete den Motor aus. Er reichte mir eine Flasche Wasser und ein Sandwich und biss schweigend von seinem ab. Ich wusste nicht worauf er wartete. Ich wusste nicht, worauf ich wartete. Schweigend begann ich zu essen. Die Mayonnaise hatte er mit Pfeffer gewürzt. Oder waren es Sandwich aus der Mensa?

„Ich habe dich vermisst“, hörte ich ihn endlich sagen. Verwundert hob ich die Augenbrauen und hatte Mühe mich nicht zu verschlucken. Liam wandte den Blick mir zu und seine jadegrünen Augen funkelten. „Ja das kannst du ruhig glauben“, meinte er und legte eines seiner langen Beine auf der Armatur ab, „Ich habe dich vermisst. Himmel wieso gehst du mir aus dem Weg? Wir sind beste Freunde oder etwa nicht?“ „Sind wir?“, fragte ich leise und sah beschämt auf meine Hände. „Von meiner Seite aus schon ja“, ich konnte hören, dass ihn meine Frage verletzt hatte. Wieder hob ich den Blick: „Tut mir leid…tut mir leid ich wollte dir nicht weh tun.“ Ich spürte wieder einen Kloß im Hals. Er nickte und dann kletterte ein sanftes Lächeln auf seine Lippen: „Du hast dich geschämt, habe ich recht?“ Erneut wandte ich den Blick ab, sah auf die sinkende Sonne und die weite Ebene hinter dem See. Dann nickte ich. „Ich hatte solche Angst um dich, Clemens“, hörte ich seine Stimme wieder nach einer Weile, „Das am Samstag…deine Mutter…ich meine…ist das immer so?“ Wieder nickte ich. Ich konnte meine Stimme nicht mehr finden. Und dieser Kloß schnürte mir die Luft ab. „Hey“, Liam stupste mich an und wie mechanisch drehte ich meinen Kopf um ihn anzusehen, „Es tut mir leid. Es tut mir wahnsinnig leid, dass ich nichts getan habe. Ich wusste nicht mehr wie man sich bewegt. Ich wusste nicht…wieso hast du nie etwas gesagt?“ Eine Weile ließ er den Satz in der Luft zwischen uns hängen wie ein Pendel, dann schüttelte er den Kopf: „So eine blöde Frage. Ich hätte auch nichts gesagt. Wie sagt man das auch? Aber…deine Mutter braucht Hilfe!“ Ich kniff die Lippen zusammen, dann sah ich wieder auf den See. Ich sammelte mich bevor ich weitersprach: „Sie hat recht. Ich bin ein Monster. Ein Dämon…Ich habe das alles nicht anders verdient.“ „Was redest du denn da?“, brauste Liam auf und ich konnte den Sitz unter ihm quietschen hören als er sich mir zuwandte, „Du bist kein Monster! Niemand hat es verdient so behandelt zu werden! Schon gar nicht von der eigenen Mutter! Wir können die Polizei einschalten, Ärzte. Es gibt sicher einen Weg wie wir dich da rausholen können.“ „Liam“, fiel ich ihm leise ins Wort. Ich hatte gedacht, dass es kaum zu hören war. Liam schien auf meine Reaktionen so sensibilisiert zu sein, dass er sofort schwieg. „Es ist okay…ich will nicht, dass die Polizei kommt. Meine Familie ist kaputt genug. Wenn ich auch noch…“, ich schüttelte den Kopf, „Mir kann niemand helfen.“ Ungläubig starrte der Rotschopf mich an: „Was? Warum?“ „Weil ich meine Schwester getötet habe“, sagte ich leise und wandte den Blick wieder ab. In dem kleinen Führerhaus des Pickups herrschte Stille. Kalte, angsterfüllte Stille. Dann räusperte sich Liam: „Du hast…aber es heißt, dass es ein Unfall war. Wie sollst du sie getötet haben?“ „Ist okay Liam…du musst nicht mit mir befreundet sein“, antwortete ich, öffnete die Seitentür des Pickups und stieg aus. Ich würde zurücklaufen. Laufen tat gut. Das Metall gab ein hässliches Geräusch von sich, als ich es mit den Klauen an meiner Hand zuwarf. Hatte ich gerade Liams Wagen zerkratzt? Das würde teuer werden.

Ich blickte nicht zurück, als ich davon ging. Wer wollte schon einem Mörder helfen? Alles was Mutter mir antat hatte ich verdient. Nichts davon war unbegründet. Ich war für den Tod ihrer geliebten Tochter verantwortlich. Und ich gehörte bestraft. Tränen rannen mir über die Wangen als ich die Hand um Sillas Lapislazuli schloss. Ich hörte Schritte hinter mir und noch bevor Liams Hand auf meiner Schulter landete blieb ich stehen.

Silla.

Sillas Todestag. Ich konnte nicht nach Hause. Morgen war sie zwei Jahre tot. Zwei Jahre.

Die Erkenntnis traf mich wie einer von Kyles Tritten in den Magen und mir wurde schlecht.

„Clemens, warte“, hörte ich Liams Stimme als ich in die Knie ging. Seine Hand landete in der leeren Luft. Er war nicht schnell genug mich aufzuhalten. Ich spürte wie mir die Magensäure und die Tränen im Hals stachen, dann übergab ich mich. Der Basketballer stand einen Moment neben mir, nicht wissend, was er tun sollte, dann strich er mir sanft über den Kopf, liebevoll, und wartete bis ich fertig war und nichts mehr in meinem Magen übrig war. Von irgendwo zauberte er eine Wasserflasche hervor und wartete bis ich mir den Mund ausgespült hatte. Dann nahm er mich sanft mit zurück zu seinem Wagen. Wir setzten uns auf die Ladefläche und blickten auf die Landschaft.

„Ich komme nicht ganz mit“, gestand mir Liam nach einer Weile in der ich nur neben ihm gesessen und apathisch ins Nichts gestarrt hatte. „Du sollst deine Schwester getötet haben? Liegt das an diesem…Mutationsding? Du bist kein Mörder, oder?“, ich spürte seinen Blick auf mir und irgendetwas in mir brach auf. Vielleicht eine Narbe, vielleicht hatte Liam einfach nur einen besonderen Schlüssel gefunden. „Ich war 14 gewesen“, hörte ich meine raue belegte Stimme, als wäre es nicht meine Eigene. „Jadoo und Bhajan…meine älteren Brüder…sie wollten eines unserer Videos drehen. Und Silla hatte mitspielen wollen.“ Die ersten Worte kamen mir so schwer über die Lippen, als wären sie stachelige Bleikugeln die mir die Zunge aufschlitzten. Mit jedem Wort wurde es leichter und leichter. Ich erzählte Liam von dem Tag an dem Sillas Lachen erloschen war. Von dem Tag an dem ich nichts hatte ausrichten können. Ich erzählte ihm von dem Davor.

Es fühlte sich seltsam an, weil ich zum ersten Mal nicht darauf achten musste, was ich sagte. Miss Auberny wusste nichts von meiner besonderen Fähigkeit. Ich hatte alles, was ich mit ihr besprochen hatte, anders formulieren müssen. Mit Liam war das anders. Es sprudelte aus mir heraus, wie Wasser aus einem Stausee. Liam hörte mir schweigend zu. Wenn ich weinte, dann nahm er mich in den Arm. Wenn ich wütend wurde ließ er mich neben ihm herum zappeln. Ab und Zu strich er mir kurz über die Schulter, um mir zu zeigen, dass er noch da war. Ich hatte längst mit Sillas Tod geendet. Die Geschichten, wie ich seitdem behandelt wurde, der Versuch zu sterben und der unbändige Wunsch dieser Horror sei ein Traum oder einfach vorbei, sprudelten weiter aus mir hervor. Unaufhaltsam. Als meine Stimme versiegte waren die ersten Sterne am Himmel erschienen. „Ich kann nicht nach Hause“, flüsterte ich nach einer Weile der Stille und wischte mir mit dem Handrücken über die Wangen, „Morgen ist ihr Todestag.“ „Dann kommst du jetzt mit zu mir“, sagte Liam als wäre es das selbstverständlichste. Ich runzelte die Stirn und blickte zu ihm auf: „Du willst mich bei dir haben?“ „Clemens“, meinte er ernst, stand auf und stellte sich vor mich. Er schob meine Beine auseinander, sodass er mir tief in die Augen sehen konnte. Seine Hände rechts und links von meiner Hüfte auf der Ladefläche abgelegt. Diese grünen Jadeperlen, die mich so verzauberten. Ich schluckte schwer. Meine Hände wurden feucht und da war schon wieder dieses kribbeln in der Magengegend. Liam der griechische Gott, der Fuchs der Götter, schoss es mir durch den Kopf. „Clemens“, sagte er noch einmal und ich konnte in seinen Augen die Ehrlichkeit erkennen mit der er die nächsten Worte sagen würde, „Du bist mein bester Freund und ich möchte dich immer bei mir haben. Ich bin so schrecklich froh, dass du hier bist und dass du mein bester Freund bist.“ Ich blinzelte. Es hatte mir die Sprache verschlagen. Da war etwas in der Luft, eine greifbare Spannung die ich nicht benennen konnte. Ein sanftes Lächeln und ein Funkeln in Liams Augen, welches ich nicht einordnen konnte. Der Rotschopf löste diese Verbindung als er zurücktrat und ich spürte wie meine Hand vorzuckte, als wollte ich verhindern, dass dieser Moment zerriss. „Und jetzt kommst du mit zu mir. Es gibt bald Abendessen, wenn wir nicht schon zu spät sind“, er zog mich von der Ladefläche, hielt mir die Tür seines Pickups auf und fuhr mit mir zurück nach Swadeswan Lake. Mein Kopf fühlte sich an wie Watte. Ich schob das auf meine Erschöpfung. Ja, ich war definitiv erschöpft. Anders konnte ich mir meine Reaktionen nicht erklären.

Liams Haus war viel größer als es für eine einzelne Familie gut war. Ich erinnerte mich daran, wie wir früher an dem leerstehenden Gebäude vorbei gefahren waren. Es gab zahlreiche Spukgeschichten darüber, dass die Gründerväter hier einst geheime Treffen und Rituale abgehalten hatten, was schließlich dazu führte, dass sie Swadeswan Lake verließen und jeder, der das Haus betrat verflucht werden würde. Das Hansborough-Haus war eine der angesagtesten Touristenattraktionen für Geisterjäger.

Ich blickte die Fassade hinauf und folgte mit meinen dunklen Augen dem Weg, den der Efeu sich an den Fenstern vorbei gesucht hatte. Es wirkte so herrschaftlich, dass ich mich klein fühlte. „Komm“, sagte Liam und nahm kurz meine Hand, nachdem er mir Zeit gegeben hatte das Haus zu betrachten. Ich folgte ihm, den Kopf in den Nacken gelegt. Die Dachziegel waren noch richtige Ziegel aus der Ziegelgrube in der Nachbarstadt. Als wir eintraten schlug uns angenehmer Essensgeruch entgegen. „Mom, Dad? Ich bin zurück. Ich habe Clemens mitgebracht, ich hoffe das ist in Ordnung“, rief er, als er seine Schuhe auszog. Ich tat es ihm gleich und schlich ihm dann hinterher zum Esszimmer. Feines Silber und chinesisches Porzellan stand dort, gefüllt mit Essen, das meinen Magen grummeln ließ. Das hier war eine andere Welt.

Liams Mutter war eine kleine Frau mit hellblonden Haaren. Ihre Augenbrauen wirkten durchsichtig und ihre Augen leuchteten in einem blassen Grün, als sie sich zu uns umdrehte. Sie kochte in Business Dress, was mich verwunderte. Der Anblick einer kochenden Mutter war mir so fremd geworden, dass es mich erschreckte. „Clemens“, sagte sie mit einem melodischen Akzent den ich nicht einordnen konnte, „Willkommen! Liam hat mir schon so viel von dir erzählt. Es freut mich, dass du endlich zu Besuch kommst.“ Ich beobachtete, wie Liam seiner Mutter einen Kuss auf die Wange gab und sie ihm einen Klaps auf die Finger, als er aus dem Topf probieren wollte. Mein Mundwinkel zuckte kurz zu einem angedeuteten Lächeln als ich diese mütterliche Liebe sah. Dieses familiäre Miteinander. Gerade, als sich der Schmerz darüber in mir ausbreiten wollte, klopfte mir eine Pranke auf den Rücken und ich stolperte nach vorne. „Hallo, Jungs! Clemens, schön dich endlich kennen zu lernen“, sagte der korpulentere Mann. Er war so rund wie ein Medizinball aus der Schule und schüttelte meinen Arm so heftig, dass mein gesamter Körper mitgeschüttelt wurde. „Dein Vater ist einer meiner besten Mitarbeiter. Es ist toll, dass ihr euch anfreundet“, fuhr er fort und ließ mir kaum Zeit zu antworten. Ich nickte, was bei dem Zappeln meines Körpers sicher unterging. „Dad, jetzt lass ihn mal los, bevor du ihn noch in einen deiner Arbeiter am Presslufthammer verwandelst“, kam mir Liam zur Hilfe und verkniff sich ein Kichern.

Ich schenkte ihm einen kurzen tadelnden Blick, dann steckte mich sein freches Grinsen an und ich lächelte leicht nervös zurück. „Genug Schabernack, Jungs“, tadelte da Mrs. Hansborough und deutete auf den gedeckten Tisch, „Händewaschen und hinsetzen. Wir haben heute endlich einmal alle Zeit zusammen zu essen.“ „Danke, dass ich mitessen darf, Mrs. Hansborough“, sagte ich endlich. Sie gab mir mit einer Geste zu verstehen, dass mein Dank nicht nötig war. Stattdessen drückte sie mir die Soße in die Hand und deutete mir sie auf den Tisch zu stellen. Ich half mit den restlichen Speisen und setzte mich dann auf den freien Platz neben Liam. Stumm lauschte ich dem Austausch von Liams Eltern und ihm. Sie waren interessiert an seinem Leben und er beteiligte sie. Wieder fragte ich mich, wieso Liam solche Angst vor der Polizei gehabt hatte. Oder eher, dass sein Vater es herausgefunden hätte. Aber meine Verwunderung wurde schon bald gestillt.

Als einen Moment Stille am Tisch einkehrte und für eine Weile nur das Kauen der Kiefer und das Schaben des Bestecks zu hören gewesen war, räusperte sich Mr. Hansborough: „Also Liam, ich habe gehört du verbesserst dich in deinem Französisch. Ich bin stolz auf dich, mein Junge.“ „Danke Dad“, entgegnete Liam und ich spürte, wie er sich anspannte, als warte er auf etwas unangenehmes. Eine Reaktion, die ich nicht sofort verstand, da fuhr sein Vater fort: „Coach Viviani hat mir gesagt, dass du das Training geschwänzt hast und ich habe von Gerüchten gehört, nach denen du dich auf der Party von Paxton mit diesem Kyle geprügelt hast bevor die Polizei aufgetaucht ist. Officer Mekkie hat deinen Pickup erkannt.“ Mit einem Mal schien die Stimmung am Tisch zu kippen. „Möchtest du mir dazu etwas sagen, Liam?“ Der strenge Ton seines Vaters ließ meine Hände schwitzig werden. Bekam Liam jetzt meinetwegen Ärger? Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich blickte nur auf meinen Teller, als könnte ich die Erbsen durch pure Willenskraft dazu bringen sich zu bewegen. Liam hatte den Kopf gesenkt: „Nein Dad. Ich kann dazu nichts sagen.“ „Ich bin enttäuscht, Liam. Du hast eine Verantwortung unserer Familie gegenüber. Mit diesem Namen solltest du keine Prügel anfangen. Wie stehe ich dann vor der Stadt da?!“, fragte Liams Vater aufgebracht und setzte zu etwas an, was ich nur als Schimpftirade interpretieren konnte. Auch wenn mir Schimpfen in einer so zivilen Art nicht bekannt war. Gerade als er Luft holte hörte ich mich räuspern. Alle Augen fielen plötzlich auf mich und ich spürte, wie mir vor Scham und Angst heiß wurde. Nicht jetzt. Konzentrier dich, schoss es mir durch den Kopf als ich dieses altbekannte Gefühl hatte, dass mein Körper gleich explodieren würde. „Ich“, begann ich, verlor dann meine Stimme. „Was möchtest du sagen, Clemens?“, fragte mich Mrs. Hansborough als mich alle eine Weile angesehen hatten. Ihre Stimme war so sanft, dass ich mich zusammen nehmen musste nicht zu weinen. Wann hatte meine Mutter so mit mir gesprochen? „Liam hat nicht einfach so jemanden geschlagen. Kyle hat mich angegriffen und Liam hat mich verteidigt. Er…hat Zivilcourage gezeigt. Darauf…darauf können Sie stolz sein“, brachte ich stockend über die Lippen. Wieder breitete sich Stille aus, dann sah Liams Vater den Fuchs streng an: „Ist das wahr?“ Nur langsam nickte Liam. Den Kopf eingezogen, als erwarte er ein Donnerwetter. „Wieso hast du das nicht gleich gesagt Junge?“, brach sein Vater wieder das Schweigen, „Dann hätte ich mir meinen Vortrag ja sparen können! Du hast die Polizei anonym gerufen. Siehst du, Mary? Wir haben unseren Sohn richtig erzogen. Solchen Bullys muss man schon früh das Handwerk legen.“ Zufrieden aß Liams Vater weiter, nachdem Mary ihm zugestimmt hatte. Mein Blick huschte zu Liam. Er lächelte und ich konnte die Dankbarkeit in seinem Blick erkennen, bevor sich das Gespräch mit einem Mal wieder um Basketball und bevorstehende Spiele drehte. Es dauerte eine Weile, dann stieg ich in die Unterhaltung mit ein. Die Anspannung in meinem Inneren löste sich langsam. Liams Vater setzte ihn ganz schön unter Druck. Kein Wunder, dass der Rotschopf keine dunklen Flecken auf seiner Weste haben wollte.

Es fühlte sich an, als hätte ich einen bleiernen Anzug an. Ein Anzug so schwer, dass ich mir sicher war, wenn ich in den See springen würde, dann würde ich wie ein Stein unter gehen. Den ganzen Tag schon war ich wie ein Geist durch die Schulflure geschlichen, hatte mit niemandem gesprochen und niemanden angesehen. Als ich jetzt auf einer Bank vor dem einzigen Spielplatz unserer Kleinstadt saß, fragte ich mich, wo die Zeit geblieben war. Was hatte ich den ganzen Vormittag gemacht? Hatten wir Hausaufgaben?

„Weißt du noch, wie zwei Jahre niemand den Spielplatz betreten hat, weil wir alle glaubten, dass der Geist von Little Daisy hier herum spukt?“, fragte mich Nadiri mit einem Lachen in der Stimme. „Meine Güte, das war echt grausam. Erinnert ihr euch an die Geisterjäger die alles daran gesetzt haben den Spielplatz zu säubern?“, fügte Jadoo hinzu, den Arm locker um die Lehne der Bank gelegt. „Es war zum todlachen“, antwortete meine Zwillingsschwester. Beim Wort Todlachen zuckten wir alle kurz zusammen. Wir schwiegen, während wir ein Auge auf Ravi hatten, der mit ein paar Freunden über den Spielplatz stürmte und eine neue Art des Fangespielen ausübte. „Es war lustig mit anzusehen wie sie Fallen aufgestellt haben“, sagte ich endlich mit rauer Stimme als ich die Stille nicht mehr aushielt. „Und dann haben sie nichts anderes gefangen als einen Fuchs“, kommentierte Jadoo und wir drei lachten halbherzig.

Sillas Todestag war eine unglaublich unangenehme Kombination aus allen Gefühlen die wir nicht richtig verstanden. Liebe und Trauer, Angst und Freude. Durften wir lachen oder war es zu früh? Sollten wir weinen? Etwas spezielles für Silla tun? Ich schloss die Hand um ihren Lapislazuli. Zwei Jahre war es her. Reichte es aus, dass ich jeden Tag an sie dachte und um Vergebung bat? Eine Absolution, die ich niemals erhalten würde. „Wir fahren um drei zum Grab“, sagte Jadoo endlich und sah mich an, „Ich könnte dich mitnehmen. Barry hat mir sein Wagen geliehen. Dann musst du nicht mit Mutter fahren.“ Ich schluckte, dann schüttelte ich den Kopf: „Es ist besser, wenn ich nicht mitkomme. Ich gehe heute Abend, wenn ihr wieder zu Hause seid.“ Ich wusste, dass Nadiri Jadoo einen traurigen Blick zuwarf. Wir alle drei wussten, dass Mutter mich den ganzen Tag umzubringen versuchen würde, wenn ich mich zeigte. Letztes Jahr war ich ihr zuvorgekommen.

Als ich Jadoos Arm um meine Schultern spürte sah ich ihn verwundert an. Er blickte nur geradeaus, beobachtete Ravi und sagte nichts. Er strich mir leicht über den Oberarm um mich zu beruhigen. Eine unscheinbare Geste, doch ich wusste, für Jadoo bedeutete sie die Welt. „Hast du schon Antworten von den Universitäten bekommen?“, fragte Nadiri ihn um das Thema zu wechseln. Und da begriff ich, dass Jadoo bald nicht mehr zu Hause sein würde. Er würde ausziehen und diese Hölle verlassen, so wie es Bhajan, Amar und Devi getan hatten. Es war nur eine Vermutung. Ich war mir sicher, dass er Angst hatte uns zurück zu lassen. Sein Zögern erschien mir nur noch mehr wie ein Zeichen zu sein, dass er uns beschützen wollte. Ein bitterer Gedanke tauchte in meinem Kopf auf: Zu spät. Das kommt viel zu spät.

Jadoo schüttelte den Kopf: „Ich habe mich nicht beworben. Ich werde nicht studieren. Aber mir wurde ein Job drüben in Barnsville angeboten. Den nehme ich wahrscheinlich an.“ „Barnsville“, fragte ich überrascht, „Das ist nur zwei Stunden Autofahrt von hier.“ „Genau“, bestätigte Jadoo ohne uns anzusehen. Ich blickte zu Nadiri und ein unausgesprochenes Gespräch fand zwischen uns statt. Wenn ich noch irgendwelche Zweifel gehabt hatte, dann waren sie jetzt verschwunden. Jadoo wollte uns nicht alleine lassen. Er wollte nicht zu Hause bleiben, doch in der Nähe um uns zur Not zu helfen. „Ihr könnt mich jederzeit besuchen kommen“, fügte er an und klopfte mir auf die Schulter, bevor er seinen Arm zurückzog. Er rief Ravi und forderte ihn zum Gehen auf, bevor er aufstand. „Komm spät nach Hause, Kleiner“, sagte er zu mir und wuschelte mir durch die Haare, „Ich hebe dir Essen auf.“ Nadiri seufzte und ich konnte sehen, wie sie die Tränen unterdrückte: „Das ist alles nicht fair.“ „Sagt Silla hallo von mir“, entgegnete ich nur und drückte Ravi kurz an mich, der sich fröhlich in meine Arme geworfen hatte. „Sei lieb zu deinen Geschwistern, ja Rav?“, ermahnte ich ihn, bevor ich den drei zusah, wie sie davon gingen. Sie würden zu Silla gehen, ihre Gedanken teilen und eine Familie sein. Ohne mich. Und so sehr ich mir einredete, dass das in Ordnung war, ich wusste tief in mir, dass ich sie alle ein wenig hasste, dass ich nicht mehr Teil von ihnen sein konnte.

Ich war so tief in Gedanken und Gefühlen versunken, dass ich Liam nicht bemerkte, der sich neben mich setzte. Erst als er mich anstupste zuckte ich zusammen, machte einen Satz und wäre mit dem Gesicht voran im Sandkasten gelandet, hätte Liam nicht geistesgegenwärtig nach meinem Arm gegriffen. „Hey hey, Vorsicht!“, rief er aus, „Entschuldige ich wollte dich nicht erschrecken.“ „Himmel noch eins“, stieß ich aus und versuchte mein rasendes Herz zu beruhigen. „Was machen wir jetzt? Ich kann dich zum Grab fahren und wir warten bis deine Familie weg ist“, schlug er vor. Ich schüttelte den Kopf. „Nein, danke Liam. Ich glaube ich will einfach etwas machen, bei dem ich mich ablenken kann.“

Einen Moment überlegte Liam, dann lächelte er wieder: „Was hältst du davon, wenn wir zu mir gehen, ein paar Sachen einpacken und dann in die Wüste fahren? Wir könnten uns um deine Mutation kümmern. Mein Dad hat komischen Kram, seit er mit der Arbeit hier angefangen hat. Davon können wir sicher was ausleihen.“ Ich runzelte die Stirn: „Was?“ „Na irgendwann musst du ja wohl anfangen das zu trainieren oder? Wir können nicht herumlaufen und hoffen, dass du nicht jedes Mal wie ein Gestaltwandler deinen Körper änderst, nur weil du gerade Wütend bist oder Angst hast“, gab er zurück. Liam schlug tatsächlich vor, dass wir trainieren sollten. Trainieren, diesen Fluch zu verstehen und vielleicht endlich kontrollieren zu können. Einen Moment blickte ich auf meine Füße. Was würde es bedeuten, wenn ich nicht mehr willkürlich in ein Monster ausartete? „Überleg doch mal“, sagte Liam da, als hätte er meine Gedanken gelesen, „Wie einfacher wäre die Welt, wenn du das alles besser kontrollieren könnte? Ein Leben ohne Angst, aber mit Superkraft. Was du alles machen könntest, was du schon immer mal machen wolltest aber aus Angst nicht getan hast! Ich spreche von Freiheit, Cie! Freiheit! Willst du das nicht einmal erleben?“ Freiheit. Ein seltsames Wort. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. In mir sträubte sich etwas, aber da war diese leise sanfte Stimme. Sillas Stimme, die mir zuflüsterte, dass ich ein Held sein konnte und es wegwarf. Silla die mir zuflüsterte, dass ich es verdient hätte alles zu erleben. Ich strich über den Stein an meinem Hals, sagte nichts und lauschte nur dieser leisen Stimme in meinem Kopf, die zwischen Zustimmung und Hass hin und her schwankte wie ein Schiff, das von riesigen Wellen herumgeworfen wurde. Dann nickte ich: „Ja…ja lass es uns versuchen.“

Kapitel 5: Die Party

„So, die Waffeln für dich und die Pancakes für dich“, sagte die Bedienung von Ed’s Diner, als sie Liam und mir das Essen auf den Tisch stellte und dazu eine große Karaffe Wasser zwischen uns platzierte. Wir saßen zum sechsten Mal in Ed’s Diner nach der Schule und aßen. Ich wusste nicht, wieso wir das angefangen hatten. Seit unserem Gespräch beim Basketballtraining und meinem Zusammenbruch in der Schule hatten wir die Nachhilfe wieder aufgenommen. Ich bemühte mich so gut ich konnte vor den Lehrern das zu zeigen, was sie erwarteten um Liam vom Nachsitzen zu verschonen. Dafür wurde ich sogar von Mason zum Training eingeladen, bei dem ich nur zusah nie mitmachte.

Coach Viviani hatte begonnen mich in die Entscheidungen über die Trainingspläne einzubeziehen und ich wusste nicht, ob ich das gut oder schlecht finden wollte. Es half mir zumindest an den Tagen, an denen wir keine Nachhilfe hatten, nicht nach Hause gehen zu müssen und später konnte ich an Taktiken und Wurftraining herum schrauben, wenn ich mir den Nachmittag vertreiben wollte. Irgendwann hatte Liam mich das erste Mal dazu eingeladen mit ihm, Mason und Theo nach dem Training mit in Ed’s Diner zu kommen. Es war ein schleichender Übergang von dem unsichtbaren Freak zu dieser Version von mir, die tatsächlich so etwas wie Freunde besaß. Noch immer versuchte ich allen so gut es ging aus dem Weg zu gehen, selbst Nadiri hatte bemerkt, dass ich offener geworden war.

Ich schnitt meine Pancakes und genoss den süßen Geschmack von Sirup auf meiner Zunge. Wenn ich mit Liam Zeit verbrachte, schien in meinem Leben nicht mehr alles so undurchdringlich trist und schwarz zu sein. „Also Liam, wie ist das so mit dem größten Sturesel der Welt über den Platz zu rennen?“, fragte Nadiri und wuschelte mir durch die Haare. Sie saß neben mir und trank einen Milchshake. „Hey“, maulte ich leise und fuhr mir selbst wieder durch die Haare. Meine Zwillingsschwester grinste frech und beobachtete Liam dann ganz genau. Ich wusste, was sie da tat. Seit sie bemerkt hatte, dass Liam und ich mehr Zeit miteinander verbrachten als nur die üblichen Schulkollegen, hatte sie mich angefleht mit uns ins Diner zu kommen. Vor allem weil sie sicher gehen wollte, dass Liam mich nicht für dumm verkaufte. Ich blickte zu Liam, der schief grinste. „Ach ich bastle ihm noch Eselsohren, damit er auch bald genauso aussieht wie er sich benimmt“, er zwinkerte mir zu und ich versenkte den Blick wieder in meinen Pancakes. „Ha!“, machte Nadiri triumphierend, „Ich wusste er wird mir zustimmen.“ „Naja Clemens ist schon in Ordnung. Er braucht einfach eine Weile, bis er jemandem vertraut, stimmts CieCie?“, Liam stupste mich mit seiner Gabel kurz an. Ich blickte zu ihm auf und er grinste mich frech an. Seine übliche stumme Aufforderung, dass ich mich an dem Gespräch und dem Spaß beteiligen sollte. Ich nickte leicht. „Ich weiß, es ist wirklich schade. Er könnte so beliebt sein“, seufzte Nadiri in ihren Milchshake. Ich? Beliebt? Ich wollte gerade etwas sagen, da wedelte sie aufgeregt mit ihrem Arm: „Hey! Georgina! Hier drüben!“ Ihre Stimme klang eine Octave höher und ich riss kurz die Augen auf. Sie hatte Georgina eingeladen?

Nadiri hatte mir erzählt, dass Georgina mit ihr im Theaterclub war. Wir hatten das Geschichtsprojekt zusammen gemacht und danach nicht mehr viel miteinander gesprochen. Die Südländerin saß häufiger beim Mittagessen an unserem Tisch wo Nadiri mit ihr und den anderen Theaterleuten quasselte. Wir waren ein seltsames Bild, da sich Liam, Mason und Theo immer wieder zu uns setzten. Wir gingen eine eigene Symbiose ein, die selbst dem Direktor aufgefallen war. Miss Auberny hatte mich zu meinen neuen Beziehungen beglückwünscht, als ich das letzte Mal bei ihr gewesen war. Ich musste ihr beipflichten. Es war viel leichter das Leben zu vergessen, wenn ich in dieser kleinen Gruppe war. Ich wusste nicht genau was es war, dass mir ein Lächeln auf die Lippen zauberte. Das Gefühl von Zugehörigkeit, vielleicht?

Georgina schob sich neben Nadiri auf den Platz und klaute sich frech eine Blaubeere aus ihrem Milchshake: „Hallo griechischer Gott.“ Sie zwinkerte Liam zu und ich senkte den Blick wieder. Es war normal, dass die Mädchen mit Liam flirteten. Er sah ja unglaublich gut aus. Wäre ich ein Mädchen, dann hätte ich sicher schon versucht ihn zu beeindrucken. Zumindest sagte ich mir das, wenn ich Liam sah und mich fühlte, als könnte er mir Flügel verleihen. „Hallo Meeresprinzessin“, konterte Liam mit dem Namen der Rolle die Georgina dieses Halbjahr spielen würde. „Und? Was machen wir morgen Abend?“, fragte sie und stahl sich eine Erdbeere mit Sahne von Liams Waffeln. Wieder hatte ich das Gefühl, dass ich unsichtbar wurde, während die Drei miteinander redeten. Nadiri stieß mir den Ellenbogen in die Rippen, was mich dazu zwang endlich wieder aufzusehen. Georginas blaue Augen lagen mit einem interessierten Ausdruck auf mir. Ich spürte ein seltsames Kribbeln in der Magengegend und meine Hände wurden feucht: „Was?“ „Ob du dabei bist“, fragte sie, als hätte sie mich das schon gefragt. „Wobei?“, ich blickte die anderen verwirrt an. „Du träumst mal wieder, Kleiner“, sagte Liam mit einem Lachen in der Stimme, „Morgen Abend ist eine Party bei Paxton. Wir gehen hin. Bist du dabei?“

„Eine Party?“, fragte ich eingeschüchtert, „Ich weiß ni-“ „Natürlich bist du dabei“, fiel mir meine Zwillingsschwester ins Wort, „Kneifen gilt nicht!“ Ich sah sie nervös an, dann nickte ich und zwang mir ein schüchternes Lächeln auf die Lippen: „Okay ich bin dabei.“ „Klasse! Das wird toll, du wirst sehen!“, rief Liam und legte dann den Kopf schief, als er mich musterte, „Warte…du bist noch nie auf einer Party gewesen, oder?“ Ertappt senkte ich den Blick wieder und schob meine Pancakes über den klebrigen Sirup auf dem Teller. Ich wartete darauf, dass sie sich über mich lustig machen würden. Niemand lachte. Wahrscheinlich, weil Nadiri anwesend war. Wieso dachte ich noch immer so schlecht von Liam? Nachdem er mir bisher nur geholfen hatte? Ich schämte mich. „Pass auf, ich hole dich und Nadiri morgen Abend um 8 mit dem Wagen ab. Partys sind mega easy und wirklich viel Spaß. Du gehst ja nicht alleine hin“, hörte ich Liam sagen und blickte wieder auf. „Und wenn Kyle da ist, dann kann er mit mir Bekanntschaft machen“, fügte Liam stolz hinzu. „Und mit mir“, fügte Georgina an. Sie lächelte, schrak zusammen, als die lauten Stimmen von Mason und Theo von der Tür herüber schallten: „Und mit uns!“ Sie betraten das Diner mit ein paar anderen aus dem Theaterclub deren Namen ich vergaß. Ich konnte nicht anders als mich darüber zu freuen. Es wollten sich wirklich andere Schüler für mich prügeln.

An unserem Tisch wurde es lauter, es wurde essen und trinken bestellt und Worte flogen durch die Gegend wie Bälle bei einem schnellen Spielerwechsel. Ich lauschte den Gesprächen mehr, als dass ich mich beteiligte. Als sich Liams und meine Blicke trafen, grinste ich ihn fröhlich an. Ich sah sicher aus wie ein kleiner Junge, dem man gerade ein Geburtstagsgeschenk gemacht hatte. Liam grinste breit und zwinkerte mir zu. Ich riss mich von seinen Augen los. Diese grüne Jade die so tief in mich hinein zu blicken schien und folgte den witzigen Geschichten von Theo und seinem ersten Mal auf dem Rücksitz eines Wagens auf dem Schrottplatz. In meinem Magen tanzten ein paar Ameisen Tango. War das wegen Liam? Sicher nicht. Es war die Aufregung der bevorstehenden Party und wahrscheinlich noch Georginas Parfüm, das mir in der Nase kitzelte.

„Bist du fertig?“, Nadiri lehnte lässig an meinem Türrahmen. Ich stand noch immer mit nacktem Oberkörper vor dem Spiegel im Zimmer, während Jadoo hinter mir auf dem Bett lag und anzüglich grinste. War er schon wieder betrunken? So genau konnte ich das nicht ausmachen. Entweder er war betrunken oder high. Ich hatte ihn so selten nüchtern erlebt, seit Sillas Tod, dass ich mich kaum noch daran erinnern konnte, wie er wirklich war. „Unser kleiner CieCie weiß nicht, was er anziehen soll“, provozierte er mich, „Ihr geht auf eine Party, was? Habt ihr Rash gefragt?“ Seit einiger Zeit nannte Jadoo unseren Vater beim Vornamen und keiner von uns verstand so wirklich, wieso er das tat. Als ich einen Blick zu Nadiri hinüber warf staunte ich nicht schlecht. Sie hatte ihre dunklen Augen mit kohlefarbenem Kajal betont und steckte in einem Rock, der definitiv zu kurz war. Ihre plötzlich hervorgezauberten High Heels ließen sie automatisch größer und länger wirken. Ich verzog das Gesicht. Irgendwie störte es mich, dass sie so herumlief. Nadiri grinste verschmitzt: „Er will eben gut aussehen auf seiner ersten Party. Vater hat nichts dagegen. Er arbeitet spät.“ „Gut aussehen für sich oder“, ließ Jadoo den Satz in der Luft hängen. Nadiris grinsen wurde sogar breiter und ich wusste sofort, was sie sagen würde. „Georgina Viviani wird da sein“, meinte sie geheimnisvoll und ich schloss ergeben die Augen. „Verräterin“, murrte ich fast lautlos, als Jadoo aufjubelte und begeistert in die Hände klatschte. „Die Georgina?! Die er jede Pause anhimmelt, als wäre sie von einem anderen Stern?“, jaulte er erfreut, sprang auf und boxte mich gegen die Schulter, „Oh Kleiner du hast Geschmack!“ Ich verdrehte die Augen. „Das ist nicht wahr“, protestierte ich, obwohl ich bemerkte wie meine Wangen heiß wurden. 

Natürlich fand ich Georgina süß. Sie war größer als ich, aber ihre blauen Augen verzauberten jeden, der vorbeikam. Ich hatte ohnehin keine Chance bei ihr. „Ich will einfach“, begann ich und wurde von Jadoo unterbrochen. „Du willst sie Umhauen! Du kannst mein Aftershave benutzen, auch wenn du noch nicht einmal deinen Milchbart verloren hast“, neckte er mich und wuschelte mir durch die Haare. Obwohl mir nicht gefiel, wie sie mich ärgerten, bekam ich trotzdem ein wohliges Gefühl in der Magengegend. Jadoo hatte Ewigkeiten nicht mehr so mit mir gesprochen. Mich nicht mehr berührt und so getan, als wäre ich nur ein lästiges Anhängsel in der Familie. Ich konnte nicht anders als dümmlich zu grinsen: „Danke…Jady.“ „Jady?“, verblüfft sah mich mein älterer Bruder an, dann wanderte ein wehmütig liebevolles Lächeln über seine Lippen, „Soll ich euch fahren? Ich kann Rashs Wagen ausleihen.“

Nadiri schüttelte den Kopf: „Nicht nötig. Wir haben eine Mitfahrgelegenheit. Aber“ Meine Schwester zögerte, blickte kurz auf ihre Schuhe und dann wieder zu unserem älteren Bruder: „Könntest du erreichbar bleiben? Falls wir früher gehen wollen oder…bei Schwierigkeiten.“ Jadoo musterte Nadiri einen Moment eingehend, als müsse er erst kalkulieren oder verarbeiten, was meine Zwillingsschwester andeutet, dann nickte er. „Klar ich habe mein Handy auf laut“, versprach er, „Und ich zügle mich. Nicht, dass ihr am Ende wegen mir in Schwierigkeiten geratet.“ Erleichtert lächelte Nadiri ihn an und für einen Moment schien sie zu überlegen ob sie Jadoo umarmen sollte. Bevor sie sich entscheiden konnte hörten wir draußen eine Hupe. Ich zuckte zusammen, mein Blick wanderte zu Nadiri, dann sogar hilfesuchend zu Jadoo.

„Keine Angst“, meinte mein großer Bruder und grinste, „Ich habe das perfekte Outfit für deine erste Party.“ Es war so ungewohnt ihn begeistert und familiär zu erleben, dass ich nicht widersprach, als er mir eine Jeans reichte, ein paar Boots die ich vor Jahren gekauft und nie getragen hatte und schließlich ein Shirt von ihm mit einem unleserlichen Bandnamen darauf. Zum Abschluss reichte er mir sogar seine Lederjacke. „Bist du sicher? Das ist eigentlich gar nicht so…mein Stil“, meinte ich skeptisch, worauf Jadoo lachte. „Du hast noch keinen Stil, Kleiner. Das ändern wir jetzt. Los zieh sie an und dann hab endlich mal Spaß. Ich habe ewig auf diesen Moment gewartet!“, er schob mich vor den Spiegel, zog den Lapislazuli unter dem Shirt hervor, sodass er sich von dem dumpfen Grau abhob wie ein fallender Stern. Wieder hupte es. „Los komm schon“, drängte Nadiri und sah kurz auf den Hausflur. „Danke Jady“, sagte ich peinlich berührt, fuhr mir schnell durch die zerzausten Haare und sprintete dann mit Nadiri hinaus.

Liams Pickup parkte vor unserer Haustür. Der Motor ruckelte leicht und die Fenster waren heruntergekurbelt. Der Abend war schwül. Nadiri schob sich auf den Platz zwischen Liam und mich und Liam fuhr los. „Wow, Cie! Du siehst ja ganz verwandelt aus“, kommentiere der Fuchs mein Erscheinungsbild und wieder spürte ich wie mein Gesicht heiß wurde. Ich war Komplimente nicht gewohnt. „Sieht es gut aus?“, fragte ich leise. In meinem Kopf huschte der Wunsch herum, dass es Liam gefallen würde. Ich blickte kurz auf meine Hände. Wieso wollte ich, dass es Liam gefiel? Das war doch unsinnig. „Du siehst klasse aus“, kam Nadiri Liam zu vor, „Er ist nervös.“ „Georgina wird es lieben“, feixte Liam und zwinkerte mir zu. Georgina. Natürlich. Wieso hatte ich erwartet, dass er etwas anderes sagte? Die leise Enttäuschung versteckte ich schnell hinter einem nervösen Lächeln. „Danke Mann“, gab ich zurück und schloss meine Hände um Sillas Lapislazuli. Diese Party würde gut werden, sprach ich mir innerlich Mut zu. Alles andere wäre schrecklich.

Die Fahrt über sangen Liam und Nadiri Lieder aus der Playlist, die gerade über Spotify lief. Ich traute mich erst kurz vor unserem Halt mit zu singen, wesentlich leiser als die Beiden, die schon jetzt den größten Spaß hatten. Ich wusste, dass meine Zwillingsschwester schon auf mehreren Partys gewesen war. Trotzdem hatte ich nicht erwartet, dass sie sich so perfekt in die Kulisse einfügte. Paxtons Haus stand abseits von den anderen Wohnhäusern. Der laute Bass war sogar auf der Straße zu hören. Ich blickte mich nervös um. Würde das nicht ärger geben? Ich schaffte es erst aus meinen Gedankenkarussell als Nadiri meine Hand nahm und ihre Finger mit meinen verflocht. Ich blickte in ihre dunklen Augen: „Keine Sorge, Brüderchen. Das wird ein Riesenspaß. Einfach ganz locker bleiben.“ „Und wenn es Probleme gibt, egal welcher Art, dann sag mir Bescheid. Ich bringe dich wohin du willst“, fügte Liam hinzu. Seine ernste Miene ließ mein Herz schneller schlagen. 

Ja, ich war nicht alleine hier. Es würde alles gut werden. Ich nickte und atmete tief durch. „Na dann…lasst uns Party machen“, sagte ich in einem Ton, den ich für männlich hielt. Offenbar hatte ich damit nicht den richtigen Ton getroffen, denn Nadiri und Liam begannen beide zu lachen. Ich grinste schief und kratzte mich am Kopf. Mir gab niemand eine Erklärung, als mich Nadiri hinter sich her ins Haus zog. Niemand schenkte uns im ersten Moment Beachtung. Ich wurde erschlagen von der Wärme mehrerer Körper, dem Stimmengewirr, das versuchte die laute Musik zu übertönen und den vielen Menschen, die gegen mich stießen. Selbst in der Schule fühlte ich mich nicht so eingeengt. Ich drückte ängstlich die Hand meiner Zwillingsschwester, spürte wie die ersten Anzeichen meiner Mutation an der Oberfläche kratzten. Dann lag Liams Hand auf meiner Schulter und ich entspannte mich augenblicklich.

„Da drüben ist Theo. Komm wir gehen zu ihm“, sagte er an meinem Ohr, wobei er sich hinunter beugen musste und ich seinen Atem im Nacken spürte. Ich wollte meine Zwillingsschwester nicht loslassen, die in eine andere Richtung ging. Wir stolperten kurz, dann sah sie mich an und grinste: „Was zuerst? Trinken oder Menschen?“ „Kannst du mir etwas mitbringen? Ich gehe mit Liam zu Theo“, ich deutete mit dem Daumen über meine Schulter. Ihre Ohrringe wackelten, als sie nickte. „Ich mache noch kurz eine Runde und sage allen „Hallo“, dann bin ich bei euch“, setzte sie hinzu, dann lösten sich ihre Finger langsam von meinen. Es fühlte sich an wie in Zeitlupe. Ihre Berührung ließ meine Hand erkaltend zurück, als sie sich abwandte und davon ging. Nadiri hatte so viele Freunde und ich? Was war geschehen, dass ich so alleine geworden war? 

Ich sah ihr nach, als Liam beide Hände auf meine Schultern legte und mich wie in einer Polonäse auf Theo zuschob, zu dem sich kurz darauf Mason mit einem Bier dazu gesellte. „Wow Clemens!“, rief Mason aus und pfiff leise durch die Zähne, „Mit dem Outfit fallen dir die Mädels heute Reihenweise zu Füßen.“ „Den Stil hatte ich dir nicht zugetraut. In der Schule bist du immer so unauffällig“, stimmte Theo zu und ich zupfte nervös an meinem Ohr. „Naja“, sagte ich leise, „Ich dachte ich probiere mal etwas aus.“ „Das finde ich klasse“, Liams Stimme bescherte mir kurz eine Gänsehaut, „Sehr abenteuerlich für dich.“ Als ich zu ihm aufsah, zwinkerte er mir zu. Ich musste grinsen. Kurz darauf reichte mir Mason sein Bier: „Wir müssen das einweihen hier. Deine erste Party, Alter.“ Skeptisch blickte ich in den Becher. Ich hatte noch nie Alkohol getrunken und in Anbetracht meiner Familie, hatte ich nicht das Bedürfnis es auszuprobieren. Sucht schien offenbar in meinen Genen zu liegen. Das konnte ich weder Mason noch irgendjemand anderem sagen. Es sei denn sie wussten bereits von Jadoo, aber das bezweifelte ich. Natürlich wollte ich kein Spielverderber sein. Pflichtschuldig lächelte ich und nippte an dem Getränk.

Ich verzog das Gesicht und hörte die drei Jungen lachen. „Das ist bitter“, gab ich zurück, nicht wirklich verstehend, wieso sie so lachten. „Daran gewöhnst du dich. Warte ab, wenn Paxton den Whiskey auspackt“, meinte Theo lachend. Whiskey? Während meine Gedanken kreisten, klopfte Liam Theo auf die Schulter: „Ganz langsam, Theo. Wir wollen Clemens nicht bei seiner ersten Party überfordern oder?“ Es war, als würde Theo erst da begreifen, was für ein großer Schritt es für mich war überhaupt in diesem Haus zu sein und er lächelte mich aufmunternd an: „Bleib einfach bei Bier. Und wenn du wirklich willst kannst du nachher mal an meinem Glas nippen.“

„Oder an meinem“, schallte Georginas Stimme an mein Ohr. Ich zuckte zusammen und meine Hände wurden augenblicklich heiß. Da mir niemand ein Regelbuch für Partys gegeben hatte, wusste ich nicht, was ich zu tun hatte. Ich wischte eine meiner Hände unauffällig an meiner Hose ab und drehte mich zu ihr um. „Dazu wird CieCie bestimmt nicht nein sagen“, meinte der Rothaarige neben mir verschmitzt und stieß mich an, weil ich noch immer nichts sagte. Der Becher in meiner Hand zitterte leicht. „Ja, nein…also…gerne…vielleicht…ich meine“, stammelte ich überfordert herum, was Georgina zum Kichern brachte. Lachte sie mich aus? Oder war das ein Ausdruck von Freude? „Was mein Bruder sagen will“, mischte sich jetzt Nadiri ein. Ich blickte mich um wie ein verschrecktes Huhn. Wo war meine Zwillingsschwester plötzlich hergekommen? Und wie schaffte sie es mehrere Becher in ihren Händen zu balancieren, die sie verteilte, während sie weitersprach: „Er freut sich dich zu sehen.“ Als sie mir einen anderen Becher in die Hand drückte und ich so mit zwei Bier in der Hand dastand, blickte sie mir bedeutungsvoll in die Augen. Hatte ich etwas falsch gemacht?

Georgina grinste mich an: „Das ist schön. Ich freue mich auch dich zu sehen. Paxton hat wirklich ein verdammt großes Haus.“ Ich nickte, weil ich nicht wusste, was ich sonst machen sollte. Mein Blick fiel auf die Becher in meiner Hand. Ich war heillos überfordert und als ich wieder aufsah war Liam im Gespräch mit irgendwelchen anderen Mitschülern, Mason und Theo spielten Bierpong und Nadiri war plötzlich auf die provisorische Tanzfläche verschwunden und tanzte mit Zane aus dem Theaterclub.

Georgina und ich standen eine Weile schweigend da. Offenbar wusste keiner von uns so wirklich, wie wir ein Gespräch am Laufen halten sollten. „Möchtest du ein Bier?“, fragte ich dann und hielt ihr einen der Becher hin. Sie blickte kurz darauf, dann hob sie ihren eigenen: „Danke, ich habe noch.“ Peinlich berührt zog ich die Hand wieder zurück und nahm einen Schluck aus dem Becher, den mir Mason zuvor gegeben hatte. Das Bier schmeckte noch bitter, aber es wurde leichter. Nervös trank ich noch mehr davon, hoffend, dass der Alkohol all das hier vielleicht leichter machen würde. Ich vergaß völlig, dass Alkohol als Gift in meinem Körper keine Auswirkungen haben würde. Ich hatte noch nie Alkohol getrunken und diese Theorie nie testen können. Wenn es wirklich so war, dann würde dieser peinliche Moment noch sehr lange andauern.

„Möchtest du tanzen?“, fragte mich die Blauäugige und brachte mich damit dazu sie wieder anzusehen. Mir verschlug es für einen Moment die Sprache. Erst jetzt viel mir ihr rotes Lipgloss auf und die hervorgehobenen Wimpern. Ich blinzelte kurz, dann nuschelte ich: „Ich glaube ich kann nicht tanzen.“ Natürlich war das über die laute Musik nicht zu hören. Stattdessen beugte sich Georgina zu mir herunter, damit meine Lippen ihr Ohr berührten. „Was?“, fragte sie, während ihr Parfüm mir in die Nase kroch und meine Knie weich wurden. „Ich…ähm…“, begann ich händeringend nach Worten zu angeln, „Ich meine…das mit…nein also…ich…“ Ich gab auf. Sie richtete sich wieder auf und lächelte mich an. In ihren Augen konnte ich lesen, dass sie etwas sagen wollte, doch da wurde sie von einem unserer Mitschüler am Handgelenk genommen und um ihre eigene Achse gedreht. Ich leerte den ersten Becher Bier und stellte ihn in der Nähe ab. Als ich mich wieder zu ihr umdrehte, tanzte sie mit dem Blondschopf. Der Anblick fühlte sich falsch und richtig zugleich an. Georgina war eindeutig eine Nummer zu groß für mich.

Da ich nicht wusste, was ich auf einer Party machen sollte, schlich ich verunsichert durch die Leute. Zuerst betrat ich die Küche, dann das Esszimmer, ich ging zurück ins Wohnzimmer, stieg die Treppen in den nächsten Stock hinauf. Hier standen und lagen die Leute herum die Drogen genommen hatten oder einen Ort suchten um zu knutschen. Ich hörte hinter ein paar Türen Geräusche die mich zu dem Schluss brachten, dass hinter dem Holz gerade nackte Körper ihren eigenen Tanz miteinander veranstalteten. Auf der Toilette wurde gekotzt. Ich verzog das Gesicht und schlich wieder zurück. 

Gerade als ich den Flur entlang ging öffnete sich unerwartet eine Tür vor mir. Ich blieb abrupt stehen und starrte Louise an, die gerade ihr Shirt über ihren BH zog und ihren Slip unter ihren Rock schob. Perplex folgte ich ohne nachzudenken den Bewegungen ihrer Finger ihre nackten Beine hinauf. Ein Stück nackte Haut, die ich nicht sehen sollte. Sofort wandte ich den Blick ab und spürte die Hitze meine Wangen hinaufjagen. Und dann trat Kyle aus dem Raum. Ich konnte seine Wut spüren, bevor ich ihn richtig ansehen konnte. Dann landete seine Faust in meinem Gesicht und ich taumelte zurück. „DU SPANNER!“, schallte seine Stimme durch das ganze Haus. Ich bezweifelte, dass irgendjemand das hören würde, bei der lauten Musik im Erdgeschoss. Schnell zog ich den Kopf ein: „Nein nein…ich habe nicht…nein.“ Ein verzweifelter Versuch Kyles Wutausbruch aufzuhalten. Von allen Mitschülern musste ich ausgerechnet Kyle in solch einer Situation erwischen? Ich sah, wie Louise sich an Kyles Arm klammerte und ihre Lippen an seinem Ohr flüsterten. Ängstlich blickte sie zu mir und ich verstand erst dann, dass sie versuchte Kyle zu besänftigen.

Kyle war wie ein wild gewordener Stier: „Dafür bezahlst du, Patschuli!“ Als er sich wieder auf mich stürzte, wich ich ihm aus. Es war ein tänzelnder Reflex, den ich vorher noch nie gehabt hatte. Ich duckte mich unter seinem Arm hindurch und spurtete zur Treppe. Den Becher Bier schleuderte ich Kyle ins Gesicht um ihn aufzuhalten. An der ersten Stufe holte er mich trotzdem ein. Er packte mich am Arm und zog mich herum. Stacheln bildeten sich auf meiner Haut die seine Handfläche aufschlitzten. Ich hörte einen Aufschrei als er mich reflexartig von sich schleuderte, drohte das Gleichgewicht zu verlieren. Wild ruderte ich mit den Armen. Es hatte keinen Zweck. Mein Schwerpunkt war nicht mehr im Gleichgewicht und die Erdanziehung zog mich nach hinten. Ich stürzte rücklings die Treppe hinunter. Die Welt drehte sich. Das Treppengeländer vor mir, dann über mir, dann neben mir. Ich versuchte mich fest zu halten. Es hatte keinen Zweck. Mein Hals und mein Rücken überzogen blitzschnell die dunklen blauen Hornplatten um mich vor Brüchen und anderen Verletzungen zu schützen, bis ich am Fuß der Treppe liegen blieb.

Mir war schwindelig von den Rollen, die ich gemacht hatte. Vielleicht war es sicherer war nicht aufzustehen. Um mich herum war Tumult ausgebrochen, dem ich nicht folgen konnte. Schreie waren zu hören, jemand sagte etwas von Blut. Dann sah ich Liams Schuhe. Seine langen Beine stiegen über mich hinüber. Auf halber Treppe packte er den entgegen kommenden Kyle an die Kehle und schleuderte ihn gegen die Wand. Ich konnte nicht hören, was sie sagten.

Mason half mir auf die Füße. Seine Lippen bewegten sich, aber ich konnte nicht hören was er sagte. Alles was ich wahrnahm war Liams Gestalt. Die Muskeln des Fuchses spannten sich an. Ich konnte Sehnen an seinem Unterarm sehen mit dem er Kyle gegen die Wand presste. Blut tropfte von Kyles Hand auf den Teppich der Treppe. Liams Gesicht war so kalt, dass er mir wie eine Eisskulptur vorkam. Seine Lippen bewegten sich und ich fragte mich, wie jemand so schöne Lippen haben konnte. Seine Augen funkelten wie kalte Jadeperlen in einem Tempel im Himalaya. Eine Ader trat an seinem Hals hervor, die von seiner Wut zeugte und während er Kyle so an die Wand presste erkannte ich in Kyles Augen einen Anflug von Angst.

„Fass ihn noch ein einziges Mal an und ich reiße dir jeden Fingernagel einzeln aus“, hörte ich Liams rauchige Stimme durch die Stille der Luft schneiden. Sie kratzte, als wäre sie ein scharfkantiges Messer. „Der hat mich angegriffen, dieser Spanner!“, versuchte Kyle sich zu verteidigen und zum Beweis seine Hand zu heben, doch Liam hielt ihn so fest, dass er sich nicht bewegen konnte. „Bist du verletzt?“, fragte Mason und blickte mich besorgt an, „Clemens?“ Ich hörte, dass er etwas sagte, spürte wie uns alle anstarrten, doch ich konnte nicht antworten. Erst als Liams Stimme zu mir herüber wehte, löste sich meine Erstarrung. Er blickte mich nicht an während er sprach: „Clemens, bist du verletzt?“ Ich schüttelte den Kopf als der Rotschopf seinen Blick auf mich legte. Die Sorge und Angst darin ließen mich einen Moment taumeln. Wieder schüttelte ich den Kopf: „Nein. Nein ich bin okay. Ich habe nicht gespannt. Es war ein Versehen. Sie haben die Tür-“ „Das ist nicht wichtig. Wir wissen alle, dass du kein Spanner bist“, fiel er mir sanft ins Wort und sah Kyle wieder an. Um uns herum begannen die Schüler zu tuscheln. „Er hat wirklich nicht gespannt“, Louise beugte sich über die Galerie, als hätte sie Angst ihre Worte würden nicht rechtzeitig gehört werden, wenn sie nicht nah genug am Geschehen ist. Wir alle hoben den Blick. „Kyle ist ein Arschloch! Clemens wollte nur den Flur entlang.“ Wütend knurrte Kyle etwas Unverständliches. Liam nahm ihn am Kragen und stieß ihn den Rest der Treppe hinunter. Der Footballer stolperte und fiel nur nicht gegen mich, weil Mason mich schnell zur Seite zog. Plötzlich war Paxton da und stieß Kyle heftig gegen die Brust: „Raus hier! Du betrunkener Bully! Verpiss dich von meiner Party!“

Ich war völlig überfordert und blickte nur noch auf meine Schuhe. Und dann, als wäre nie etwas gewesen, begannen alle wieder zu reden, zu lachen und zu trinken. Liam hob kurz mein Kinn an. Sein intensiver Blick prüfte, ob ich log oder die Wahrheit sagte, wenn ich sagte, dass ich nicht verletzt war. Ich lächelte entschuldigend: „Tut mir leid…das war ein Versehen ich schwöre.“ Liam schmunzelte, dann klopfte er mir auf die Schulter: „Die erste Party und gleich die erste Schlägerei. Du entwickelst dich.“ Er legte mir den Arm um die Schulter und zog mich wieder ins Wohnzimmer, wo meine Party begonnen hatte. Sein Cologne duftete nach Minze. Ich mochte Minze. Sein Arm lag wohltuend schwer auf meinen dünnen Schultern und ich konnte den Anblick von ihm nicht vergessen wie er wie ein bedrohlicher Wolf Kyle zurechtgewiesen hatte.

Mit einem Mal schien ein Teil meines Unwohlseins von mir abzufallen. Ich wischte unauffällig über die Risse in der Lederjacke. Jadoo würde das sicher nicht gefallen, dass ich seine Jacke kaputt gemacht hatte. Gleichzeitig konnte ich mir gut vorstellen, dass er grinsen würde und sagen würde, dass er so wenigstens noch cooler aussehen könnte. Ein Schmunzeln wanderte über meine Lippen, als ich in den Kreis meiner kleinen Freundesgruppe eintrat. Jemand reichte mir ein Glas Whiskey und ich nahm es dankend an. Vielleicht war es der Alkohol, der mich so langsam entspannte.

„Wieso tanzt du nicht mal mit Georgina?“, fragte mich Liam nach einer Weile mit schwerer Zunge und leuchtenden Augen. „Du weißt genauso gut wie ich, dass ich bei Georgina keine Chance habe“, entgegnete ich und klopfte erneut nervös gegen mein Glas. Liams Blick erinnerte mich an den verhangenen Blick meiner Mutter und ich wich ihm automatisch aus. Der Rotschopf lachte leise und ich konnte den Whiskey in seinem Atem riechen. „Komm ehrlich jetzt? Du lässt dir von ihr Angst machen?“, fragte er und nahm meine Hand, „Oder weißt du etwa nicht wie man tanzt?“ Ich wollte noch etwas sagen, da zog mich Liam zu der kleinen Fläche, drehte mich um meine eigene Achse und tanzte mit mir. In seinen Augen konnte ich erkennen, dass er sich dabei nichts Böses dachte. Argwöhnische Blicke lagen auf uns. Jemand zeigte mit dem Finger und lachte, rief nach anderen Zuschauern. „Liam die anderen gucken schon“, zischte ich und versuchte mich zu befreien, aber Liams Griff war eisern. „CieCie was ist? Ist dir dein bester Freund nicht gut genug?“, fragte er traurig und wir blieben stehen. Erstaunt blickte ich ihn an, der Gesichtsausdruck eines überrumpelten Hasen. Hatte er sich gerade als mein bester Freund bezeichnet? War Liam mein bester Freund? Ich hatte nie wirklich darüber nachgedacht.

„Scheiße! Bullen im Anmarsch!“ Die Musik endete abrupt und ein einziger Tumult brach aus. Ich konnte sehen, wie Liams Gehirn nur langsam diese Information verarbeitete. Wir blickten uns an, dann auf den Alkohol in unseren Händen, dann wieder einander in die Augen. Plötzlich flammte Angst durch die Jade: „Scheiße…ScheißeScheißeScheiße mein Vater bringt mich um!“, rief Liam aus. Noch immer schien er nicht Herr seiner Gliedmaßen zu sein. Da packte uns Nadiri an den Händen und zerrte uns stolpernd hinter sich her. „Was macht ihr denn Jungs, wir müssen verschwinden!“, zischte sie und wir rannten zu Liams Wagen. Auf dem Weg stolperten wir gegen zwei Polizisten. Wir blieben nicht stehen. Als wären wir eine Gruppe Rehe auf der Flucht vor den Jägern. Hinter uns verlangten die Polizisten, dass wir stehen blieben. Keiner von uns reagierte darauf.

Liam fummelte umständlich an den Schlüsseln herum. Sie vielen ihm aus der Hand und er fiel beinahe vornüber als er sie aufsammeln wollte. „Ich fahre“, hörte ich mich ungewohnt feste sagen. Ich warf das Glas ins Gras, nahm die Schlüssel und stieg in den Wagen. „Los doch!“, herrschte ich die Beiden an, die völlig überrascht einen Moment zögerten, dann sprangen sie in den Pickup, ich startete den Motor und raste die Straße entlang. „CieCie du hast keinen Führerschein!“, schrie mir Nadiri ins Ohr, während ich um die nächste Straße bog und dann die Fahrt verlangsamte um mich auf die Hauptstraße zu begeben. „Ist doch egal, wir müssen nur erstmal weg und Liam ist zu betrunken um zu fahren“, gab ich zurück und versuchte so unauffällig wie möglich zu wirken während Polizeiautos an uns vorbei rasten. Liam zog den Kopf ein und zum ersten Mal sah er wirklich aus wie ein Häufchen Elend.

„Die haben mich gesehen. Die haben mich erkannt. Ich kann nicht mehr nach Hause. Ich kann nicht nach Hause“, lallte er und ich spürte einen Kloß im Hals. Im Rückspiegel fing ich einen Moment Nadiris Blick auf, dann seufzte ich leise: „Liam, hey mach dir keine Sorgen okay? Wir fahren jetzt erst zu mir und dann schläfst du deinen Rausch aus. Schreib deinen Eltern eine Nachricht und morgen sehen wir weiter.“ Meine Worte schienen eine Weile zu benötigen, bis ihre Bedeutung bei dem Rotschopf ankam. „Wirklich?“, fragte er und sah mich lange an, als hätte ich ihm gerade einen Korb Diamanten versprochen. Sogar Nadiri schien von meinem Vorschlag überrascht. Sie lehnte sich zu mir: „Echt?“ Ich nickte: „Ja echt.“ Und fuhr ohne ein weiteres Wort zu sagen nach Hause.

Kapitel 4: Aufschlag Liam Hansborough – Spiel, Satz und Sieg

Wieder klingelte die Schulglocke zum Ende des Tages. Swadeswan Lakes Schülerschaft rannte über die Flure und das Stimmengewirr klang wie das Tosen eines Wasserfalls. Die Stimmung war erfüllt vom Flirren der Fröhlichkeit endlich Freizeit zu haben oder den akzeptablen Nebenjobs nachgehen zu können, bei denen Freunde einen ab und zu besuchten oder der Schwarm vorbei kam um einen anzuhimmeln. Ich stand gedankenverloren an meinem Spind. Erst Nadiris aufgeregtes Rufen riss mich aus meiner Erstarrung und ich drehte mich zu ihr herum. Meine Schwester, heute in einen traditionellen Sari gewickelt, hatte ihren braunen Rucksack lässig über eine Schulter gehängt. Der Kontrast zwischen Tradition und Moderne ließ sie disharmonisch wirken und trotzdem schaffte sie es, sich in das bunte Bild der Schülerschaft einzugliedern wie eine bunte Perle in einer Freundschaftskette aus dem Kindergarten. Sie streifte sich das schwarze Seidenhaar aus der Stirn: „Cie, musst du schon wieder nachsitzen?“

Ich erblickte über ihre Schulter hinweg ihre Freundinnen und nickte. Erstaunt bemerkte ich, dass sich Georgina dazu gesellt hatte. Seit wann waren sie und Nadiri befreundet?

„Wann hört das auf?“, bohrte sie nach und wedelte mit ihrer dunkelbraunen Hand vor meinem Gesicht, sodass ich den Blick wieder ihr zuwandte. Meine Gedanken kreisten um Georginas Lächeln und die türkisenen Ohrringe die sich an ihren Hals schmiegten, wenn sie sich zum Gespräch zu einem der kleineren Mädchen hinunter beugte. Als ich in Nadiris Augen sah hatte ich augenblicklich das Gefühl meine Mutter vor mir zu haben. In ihrer alten Form, als sie noch voller Liebe und Güte meinen fantastischen Geschichten zugehört hatte und verständnisvoll mit dem Kopf nickte, wenn ich ihr davon berichtete, wie Mason mein Planetenmodell kaputt gemacht hatte.

Nadiri wäre eine perfekte Kopie unserer Mutter, hätte sie nicht mehr von den ebenmäßigen Zügen unseres Vaters geerbt. Ich zuckte mit den Schultern. Sie stöhnte auf und verdrehte die Augen. Erbost verschränkte sie die Arme vor der Brust, wobei ihre goldenen Armreife klimperten. Wieso trug sie heute überhaupt so traditionelle Kleidung? Hatte ich einen Geburtstag oder Jahrestag vergessen?

„Das geht nicht! Hast du deine Schülerakte vergessen? Wie willst du einem College erklären was du da abziehst? Oder einem späteren Arbeitgeber?“ Ich verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf. 

„Vergiss es einfach Nadiri. Kümmere dich um deinen Kram. Du weißt genau, dass ich keine andere Wahl habe. Ich hab’s dir doch erklärt!“, warf ich ihr wütend an den Kopf. So leicht ließ sich meine Zwillingsschwester nicht abzuschütteln. Seit Sillas Tod hatte sie die Mutterrolle in unserer Familie eingenommen. An vielen Tagen tat es mir leid, dass sie dazu gezwungen wurde. Dann hasste ich mich noch mehr. Heute war ich selbst wütend. Ich schloss die Hand um den Lapislazuli und schloss den Spind. Gerade wollte ich mich zum Gehen abwenden, als sie mich am Arm packte: „Und ich habe dir gesagt, was du machen kannst um das zu beenden. Viele haben schon verrückte Dinge gesehen, wenn sie mit dir unterwegs waren und wir haben immer die perfekte Erklärung zu Hause ausgearbeitet. Liam hat es nicht einmal weitererzählt, so wie all die anderen. Oder gefällt es dir etwa, nicht zu Hause zu sein?“ Ihr bohrender Blick zwang mich zum Wegsehen. 

Natürlich gefiel es mir, wenn ich nicht zu Hause sein musste. Wenn ich nach der Schule nach Hause kam, dann war das sogar schlimmer, als in die Schule zu gehen. An manchen Tagen hatte ich Glück und Mutter war nicht aus ihrem Zimmer gekommen. Dann sprach sie mit niemandem von uns und ich konnte die Illusion erschaffen, dass wir eine Familie waren, die sich abends am Küchentisch traf und lustige Geschichten vom Tag austauschten. Vater machte dann meistens zusammen mit Nadiri das Abendessen und Jadoo und ich spielten sogar Videospiele. Diese Glückstage waren so selten wie die Wahrscheinlichkeit einen Menschen mit sogenanntem goldenem Blut zu treffen. Der seltensten Blutgruppe der Welt. In den meisten Fällen sahen meine Abende zu Hause immer gleich aus und endeten für gewöhnlich damit, dass mich meine Mutter in eine Truhe sperrte und ich erst herauskommen konnte, wenn mein Vater mich befreit hatte. Obwohl meine Geschwister besser über ihre Trauer hinwegkamen als unsere Mutter konnten sie mir kaum helfen.

Wieder zerrte Nadiri an meinem Arm damit ich sie ansah. Ich tat ihr diesen Gefallen nicht. „Du blöder Sturesel!“, fauchte sie mich an und stapfte davon. Mir viel auf, dass ihre Sneakers ebenso disharmonisch zu ihrem Sari waren wie ihr Rucksack. Ich fühlte mich wie ein geprügelter Hund, als ich ihr nachsah, wie sie in den Kreis ihrer Freundinnen – und Georgina Beryl Viviani – eintrat, wild gestikulierte und dann mit ihnen in eine Richtung verschwand. Ich konnte mir vorstellen, wie ihre Armreife dabei klirrten. Georginas blaue Augen fingen meinen Blick auf. Ich sah, wie ihre Mundwinkel kurz zuckten. Ein mitleidiges Lächeln lag in ihrem Blick, ohne dass sie es wirklich zeigen musste. Dann drehte sie sich um und folgte meiner Schwester mit wippendem Pferdeschwanz.

Nadiri hatte es gut. Sie hatte Freunde, so richtige Freunde und nicht diese Zweckgemeinschaften, die ich einging. Ich seufzte wieder, fuhr mir mit der Hand durch mein strohiges Haar und machte mich auf den Weg zum Nachsitzen.

Als ich mich an den Tisch setzte glitt Liams Blick zu mir herüber. Es war das erste Mal seit, dass er mich wieder ansah. Er nickte mir mit seinen jadegrünen Augen zu, ich erwiderte die Geste nicht. Wir saßen so regelmäßig in diesem Raum in der Schule, dass ich bald blind die Maße des Raumes und der darin befindenden Tische berechnen konnte. Jedes Mal sah ich Liam nach der Stunde zur Tür heraus spurten und zum Training hasten. Erst kürzlich hatte ich gehört wie Coach Viviani zu Mrs. Smith gesagt hatte, dass er es langsam leid war. Und das war meine Schuld. Ich verbaute Liam wohl gerade die Chance auf ein Sportstipendium, wenn es so weiter ging. Ich war zu Stolz um vor Liam im Staub zu kriechen und zuzugeben, dass ich falsch reagierte. Es war ja nicht der einzige Grund, wieso ich lieber Nachsaß.

Seit dem Tag auf dem Basketball Cord hatten wir kein Wort mehr miteinander gewechselt. Bei vielen der üblichen Auseinandersetzungen auf dem Pausenhof war Liam nicht da. Wenn er es sah, dann holte er einen Lehrer, als würde es ihm Freude bereiten mir ein schlechtes Gewissen zu machen. Nicht einmal hatte ich gehört wie er sich beschwert hätte oder wie Teammitglieder aus dem Basketball feindselig über mich getuschelt hätte. Er saß eine Stunde mit mir in diesem Raum und tat nichts, um etwas daran zu ändern.

Die Uhr über der Tür tickte unablässig, während ich aus dem Fenster starrte. Ich hörte die Bleistifte der anderen über das Papier kratzen und beobachtete zu dieser Melodie, wie sich in der Ferne Regenwolken bildeten. Es hatte lange nicht mehr geregnet. Die Verheißung darauf kam mir wie eine Erlösung vor. Ein paar Momente der Kühle, bevor das verdampfende Wasser die Welt in eine erstickende Decke hüllen würde. Ich beobachtete die Wolkenberge und wartete. Wartete auf eine Eingebung oder eine Möglichkeit diesem endlosen Kreislauf zu entkommen, der mein Leben bestimmte und den ich eigentlich nicht beenden wollte. Ich saß nicht gerne nach und ich wusste, welche Auswirkungen das auf mich oder Liam und unsere Zukunft hatte.

Doch die Probleme die ich Nadiri geschildert hatte, der Vorfall auf dem Cord, war eine Ausrede. Eine willkommene Ausrede die es mir erlaubte ein Gefängnis gegen ein anderes zu tauschen. Es war das erste Mal, dass mir bewusst wurde, dass ich wirklich lieber in diesem stummen Raum saß als nach Hause zu gehen. Ich schüttelte leicht den Kopf, um die aufsteigenden Bilder zu vertreiben.

Während ich zu Hause übersehen oder bestraft wurde, weil ich war wie ich war und existierte, wurde ich in der Schule plötzlich gesehen. Wut, Freude und Mitleid, die mir in der Schule entgegengebracht wurden, bauten auf anderen Prinzipien auf. Nicht auf den Mord meiner Schwester. Sondern auf mir und meiner Noten. All das war wesentlich besser, als zu Hause zu sein.

Die Stunde des Nachsitzens ging ereignislos an mir vorüber. Ich machte diesmal nicht einmal meine Hausaufgaben. Alles, was ich tat, war auf die schwarzen Wolken zu starren, die wie ein unaufhaltsamer Tsunami auf Swadeswan Lake zurollten. Vielleicht würde sich der See durch diesen Regenguss mehr füllen. Ich hoffte es, auch wenn ich nicht schwimmen ging. Für Nadiri, Ravi und Jadoo wäre es schön. Ich sammelte meine Sachen zusammen und schlich über den leeren Schulflur. Das Gebäude fühlte sich plötzlich wie ein Geisterhaus an in dem ich gefangen war. Die Wände schienen enger zu werden und mich einzuklemmen, während ich meinen tristen Spind im Auge behielt. Ich konzentrierte mich auf das Atmen, wie es mir Miss Auberny gezeigt hatte. Atemübungen gegen Panikattacken. Sie halfen nie. Da ich die Stunde Nachsitzen nicht dazu genutzt hatte zu lernen oder meine Hausaufgaben zu machen wollte ich ein paar Bücher holen und mich zum Lernen in die Bibliothek verziehen. Doch Miss Auberny hielt mich auf. Sie tauchte wie aus dem Nichts hinter mir auf und erschrak mich zu Tode. Ein Gespenst in einem luftig leichten, geblümten Sommerkleid. 

„Hallo Clemens, schön, dass ich dich endlich mal erwische“, sagte sie mit ihrer üblichen Fröhlichkeit in der Stimme.

„Guten Tag Miss Auberny“, entgegnete ich brav und wartete ab, was als nächstes passieren würde. Ich war Lehrern und der Schulpsychologin, sogar dem Direktor in den letzten Wochen erfolgreich ausgewichen. „Du warst wieder nachsitzen“, stellte sie fest. Ihr Blick erinnerte mich an den einer enttäuschten Mutter. Kurz musste ich an Nadiri denken, dann an meine eigene Mutter und verdrängte das Bild sofort wieder. In meinem Herzen schmerzte es und ich konnte fast hören, wie erneut etwas zerbrach. Neue Scherben, die sich darin verfangen würden. Vielleicht, dachte ich mir, vielleicht würden diese Scherben es eines Tages von innen aufschlitzen und mir endlich den Frieden geben, nach dem ich lechzte wie ein Verdurstender nach Wasser in der Wüste. Ich sagte nichts zu ihrer Feststellung. Selbst wenn ich gewollt hätte, was hätte ich sagen können?

„Wieso tust du dir das an, Clemens?“, sanft streckte sie die Hand nach mir aus. Ich wusste, wenn sich ihre Finger auf meinen Oberarm legen würden, dann würde ich weinen und nicht mehr damit aufhören können. Ich zuckte zurück. Meine Tasche sorgte für einen metallischen Laut als sie gegen die Spinde hinter mir stieß und Miss Auberny trat sofort einen Schritt zurück. Ihr Fuß wippte ein paar Mal hin und her, während sie ruhig auf eine Antwort wartete. Ich gab ihr keine. Ich konnte ihr keine geben.

Ich wusste doch selbst, dass es einfach wäre dieses Spiel zu beenden. Es wäre so einfach, dem Nachsitzen zu entgehen und normal weiter zu machen. Liam hatte niemandem von dem Zwischenfall verraten. Mit allem, was er getan hatte, hatte er versucht mir zu zeigen, dass ich ihn nicht ängstigen musste. Selbst jetzt, wo seine Zukunft auf dem Spiel stehen könnte, tat er nichts um mich zu zwingen mit ihm auf den Basketball Cord zu gehen. Wer wusste schon mit Gewissheit, ob Liam mir nichts vorspielte wie so viele vor ihm. Dass er mich nicht heimlich filmen würde oder meine Kleider verstecken würde oder mich nackt an einen Pfosten des Footballfeldes fesselte, wie es Kyle erst vorige Woche getan hatte.

„Clemens, du bist so ein begabter Schüler“, brach Miss Auberny das Schweigen, „Ich weiß, es ist nicht leicht, seit deine Schwester vor zwei Jahren unter so tragischen Umständen gestorben ist. Der Tag nähert sich und das kann viele Emotionen aufwühlen.“ Ich ballte die Hände zu Fäusten. Mein erster Impuls war zu schreien. Sie anzuschreien, dass sie Sillas Namen und ihren Tod nicht in den Mund nehmen dürfe. Was fiel ihr ein, mich damit aus der Reserve locken zu wollen? Speichel sammelte sich in meinem Mund und ich mühte mich um eine lockere Miene. „Anders als deine Geschwister hast du dich nach Sillas Tod in der Schule sogar verbessert. Ist das jetzt die späte Trauerarbeit? Du weißt, du kannst immer mit mir sprechen. Über alles Clemens. Egal was es ist. Wir können das zusammen bewältigen“, sprach sie mir Mut zu. Ich spannte den Kiefer an. „Hast du Probleme zu Hause?“, versuchte sie es weiter. Vorsichtig wie ein Reh, dass den Boden unter seinen Füßen testete um nicht in eine Falle zu tappen.

Meine Lippen hatten sich zu einem schmalen Strich verzogen. Ich schüttelte den Kopf, wandte mich zu meinem Spind und schob Bücher darin herum. Ich wusste, dass ich gerade die Chance wegwarf jemandem zu erzählen, was zu Hause passierte. Jemandem von der Truhe zu erzählen, von den Tabletten, dem Alkohol, dem Schreien und der Schläge. Niemand würde mir da helfen können. Alles was ich spürte war eine unsagbare Angst und Verzweiflung und ich wollte nicht, dass Miss Auberny das sah. Sie würde es aus meinen Augen lesen, egal wie sehr ich versuchen würde es zu verstecken. Die aufsteigenden Tränen trübten meinen Blick. Hatte ich gerade das Chemiebuch herausgeholt? Aus dem Augenwinkel glaubte ich etwas Rotes an der Ecke des Flurs zu sehen. Rot wie Liams Haare. Als ich hinsah war der Flur leer wie zuvor.

Die Hand der Schulpsychologin ließ mich zusammenzucken. Sie strich mir über den Oberarm und versuchte wohl sich selbst daran zu hindern mich zu umarmen. Ihre Berührung brannte wie Feuer. Ich spürte, wie ich zitterte. Wie sich der Druck in meinem Innern aufbaute und meine Mutation eingreifen wollte. Wieder zählte ich meine Atemzüge. Nicht jetzt. Nicht hier. Ich musste mich kontrollieren. Ich musste diesen Fluch kontrollieren. „Ich werde das lösen“, versprach ich endlich mit rauer Stimme die verriet, dass ich das nicht vorhatte. „Schon gut Clemens. Ich möchte nur, dass du weißt, dass ich dir zuhöre. Meine Tür steht dir immer offen“, ihr mitleidiger Blick trieb mir erst recht die Tränen in die Augen.

Als sie den Flur entlang ging schlug ich endlich die Tür meines Spinds zu und spürte die ersten Tränen über meine Wangen rollen.

Wer brauchte schon Hausaufgaben? Ich hastete schnellen Schritts hinaus. Meine Tasche rutschte mir von der Schulter. Ich hob sie nicht wieder auf. Ich wollte zu meinem Fahrrad und trat in prasselnden Regen. Als hätte der Himmel eine unsichtbare Schleuse geöffnet fiel der Regen so stark herunter, dass er mir auf dem Kopf schmerzte. Ich blickte auf den Asphalt, der sich binnen weniger Sekunden in dunkles Schwarz färbte und ließ die Schultern hängen. Der Regen verwandelte sich in die Trommelschläge meiner Mutter vom Vortag, die sie wie eine Furie kreischend auf meinen Kopf niederregnen ließ.

Zu Beginn der Woche war sie das erste Mal wieder aufgestanden, zu einer Zeit in der ich zu Hause gewesen war. Ich erinnerte mich an ihren Blick, an ihre Tränen, an die unzähligen Schläge. So hart und kalt wie der Regen, der sich durch meine Kleider grub. Ich stand da und spürte, wie sich meine Kleidung vollsog, wie sie schwerer wurde und mich zu Boden ziehen wollte. Ein leichter Lufthauch brachte mich zum Zittern. Oder waren es all die Gefühle, die ich immer und immer wieder vergrub? Der Regen kühlte die Luft ab und obwohl es sonst sehr heiß war in Swadeswan Lake, fror ich.

Das Wasser aus dem Himmel vermischte sich mit meinen Tränen, die ich stumm frei ließ, als ich plötzlich eine Hand auf meinem Arm spürte. Ich machte einen Satz, mein Herz raste und über meinen Arm zog sich eine Spur aus metallenen Zacken die mich einen Moment wie ein hoch technologisierter Roboter aussehen ließen. Ich bemerkte es kaum, weil ich mich nicht mehr richtig konzentrieren konnte. Als ich den Kopf in den Nacken legte um dem Unbekannten ins Gesicht zu sehen musste ich den Regen und meine Tränen aus den Augen blinzeln. Ich blickte Liam entgegen.

Seine roten Haare hingen ihm ins Gesicht und der Regen tropfte daraus zusätzlich auf mich nieder. Seine Augen leuchteten wie zwei magische Jadeperlen in der Dunkelheit. Eine eigentümliche Aura schien auf ihm zu liegen und ohne ein Wort zu sagen zog er mich in eine Umarmung. Völlig perplex ließ ich es geschehen. Mein Rücken versteifte sich, als sich die starken Arme des Basketballers um meinen dünnen Oberkörper schlangen. Panik pochte erneut in meinem Herzen. Ich hatte keine Chance mehr zu fliehen. Als hätte mein Körper diese Tatsache erst in dem Moment begriffen, drückte ich gegen Liams Oberkörper in dem Versuch mich zu befreien. Ich versuchte ihn zu schlagen, holte zu Tritten aus. Meine Zähne klebten aufeinander und ich hatte Mühe zu atmen. „Lass mich los!“, schrie ich gegen das Getöse des Regens in Liams Ohr, wollte ihn sogar beißen. Meine Hoffnung lag auf meiner Fähigkeit, die bis eben noch an der Oberfläche gewartet hatte wie eine Gottesanbeterin in einem Baum. Jederzeit bereit hervor zu springen. Ich war doch wie einer der X-Men. Die Erinnerung an Sillas letzte Worte raubten mir den Atem: Du bist doch ein Superheld. Und wie damals ließ mich meine Mutation jetzt im Stich, wenn ich sie so sehr brauchte.

Meine Arme erschlafften langsam, ich gab den Widerstand auf. Liam sagte kein Wort. Ich hätte es ohnehin nicht gehört. Inzwischen schluchzte ich so laut, dass ich den Regen und die wenigen Donnerschläge übertönte, die hier und da aufflammten wie kleine Granaten. Meine Finger krallten sich in den nassen Stoff des Jeanshemdes, das Liam trug, meine Knie zitterten und ich konnte die Tränen nicht mehr stoppen. Panik brach sich in mir Bahn, zerplatzte als sie sich ausgedehnt hatte und machte so Platz für die Blase an Verzweiflung, die ich so lange unter Kontrolle gehalten hatte, dass sie mir so schwer auf der Seele lastete und mir so weh tat, als hätte ich eine Abrisskugel auf meinen Fuß fallen lassen. Erst als diese Blase sich langsam aufgelöst hatte, trat die Trauer hervor. Meine ständige Begleiterin. Sie wirkte so süß wie Honig und ich empfing sie mit offenen Armen. Sie war nicht so schmerzhaft, zog sich immer wieder zurück und war einfach nur da. So wie Silla es einst gewesen war. Einfach nur da.

Während ich weinte und drohte das Gleichgewicht zu verlieren hielt Liam mich stumm im Arm und führte mich schließlich zur Sporthalle, als ich nur noch von einem Schluckauf geschüttelt wurde.

Er zog mich in die Umkleide der Jungen, beförderte wie selbstverständlich eine Jogginghose und ein Shirt zu Tage, das nach seinem Deo roch, und reichte mir von seinem Shampoo. „Geh duschen“, meinte er sanft, „Ich glaube niemand will, dass du eine Lungenentzündung bekommst.“ Ich hatte keine Kraft dem Fuchs zu widersprechen oder ihm die verbotene Tatsache zu erklären, dass ich weder krank noch verletzt werden konnte. Jedenfalls nicht körperlich. Pflichtschuldig stellte ich mich unter die Dusche. Das warme Wasser hüllte mich in eine eigenartige Decke. Ich fühlte mich nicht mehr nur äußerlich, sondern innerlich nackt. Roh und sensibel wie ein freiliegender Nerv. Erst als ich sicher war, dass meine Glieder sich aufgewärmt hatten, zog ich Liams Klamotten an. Sie waren mir viel zu groß. Mit einem Mal sah ich aus, wie ein kleiner Junge. Es brachte mich nach kurzer Betrachtung sogar zum Lachen, was Liam ein schmunzeln ins Gesicht zauberte. Es tat gut ihn so zu sehen. Er schien ein wenig zu leuchten.

„Komm mit“, befahl er dann mit einem eigenartigen Funkeln in den Augen und zog mich hinter sich her. Ich protestierte, Liam ignorierte meine Worte. Als ich den Gummiboden roch, der in der Turnhalle ausgelegt war, begann ich augenblicklich wieder zu zittern. Ich versuchte mich daran zu erinnern wie man atmete. Das Quietschen der Hallenschuhe und das dumpfe Geräusch der Bälle ließen erneut Angst in mir aufflammen. Ich sah, wie Mason einen Korb machte. Mason, der zwei Köpfe kleiner war als seine Teamkollegen. Mason, der aufgehört hatte mein Freund zu sein. Suchte Liam Publikum? Wieso zerrte er mich hier her?

„Liam lass mich los“, bat ich leise und klang weinerlich, doch Liam schüttelte nur den Kopf. Das Tanktop tropfte weiterhin vom Regen, aber er trug frische Shorts. Ich erinnerte mich unweigerlich an ein Gespräch zwischen Nadiri und ihren Freunden, das ich am Mittag beim Essen aufgeschnappt hatte: „Liam Hansboroughs Beine sind sooo lang. Er muss doch echt von einem griechischen Gott abstammen. Vielleicht ist er ja Herkules!“ Und in diesem Moment musste ich meiner Schwester für einen verwirrenden Herzschlag zustimmen.

Liam drückte mich auf die Tribüne und legte seine Tasche zu meinen Füßen ab: „Pass bitte darauf auf. Keine Angst, ich werde dir nichts antun und meine Teamkollegen auch nicht. Bleib einfach und sieh zu. Bitte.“ Stumm nickte ich, wobei ich den festen Plan hatte zu verschwinden, sobald Liam sich an sein Training machte. Als hätte der Rothaarige meine Gedanken gelesen drehte er sich noch einmal um und grinste mich verschmitzt an. „Du kannst nicht abhauen. Ich hab deine Sachen in meinen Spind geschlossen und den Schlüssel habe ich“, er ließ kurz einen Schlüssel aufblitzen den er zurück in die Hosentaschen seiner Shorts steckte. Verdammt.

Seine Teamkollegen begrüßten ihn mit großem Hallo und Schulterklopfen, machten Witze über seine nassen Haare und zwickten ihn spielerisch in die Seite. Sie schielten zu mir. Mason musterte mich mit einem eigenartigen Gesichtsausdruck. Ich hörte, wie sich jemand wunderte, was der Freak hier zu suchen hätte. Liams Antwort kam sofort und mir viel vor Staunen die Kinnladen hinunter, wobei mir auffiel, dass Mason frech grinste, als wüsste er über Liams Plan Bescheid. „Da der Coach krank ist wird Clemens ein wenig unsere Würfe beobachten und versuchen uns Tipps zu geben. Er ist ein Genie in Physik und ich dachte mir, er könnte uns bei der Analyse helfen.“

Verunsichert blickte ich auf meine Hände. Ich wollte dem Basketballteam nicht in die Augen sehen. Gleich würden sie über diesen Vorschlag lachen. Natürlich, was sollte ein Wissenschaftsnerd ihnen über Basketball erzählen können. Anstatt zu lachen, freuten sie sich sogar. „Hey klasse Idee, Liam“, hörte ich Masons Stimme, „Bestimmt fällt Clemens etwas auf, das der Coach immer wieder übersieht.“ Als ich den Kopf hob zwinkerte mir der Schwarzhaarige kurz zu. Hatte Mason gerade für mich Partei ergriffen? Mein Blick huschte über die Gesichter der Sportler. Die meisten drehten sich wieder um und formten Mannschaften. Liam lächelte mir zu und deutete auf seine Tasche zu meinen Füßen.

Eine Videokamera lag darin, die ich pflichtschuldig herausnahm. Das kühle Gehäuse ließ mich kurz zusammenzucken. Es erinnerte mich an Bahjan und Jadoo, an Devi und die Videos. Ich schluckte schwer, dann schüttelte ich das Gefühl ab und begann das Training zu filmen. Meine Hände zitterten, das Bild verwackelte. Mit der Zeit begann ich mich zu entspannen, als ich ungewohnter Weise keine große Beachtung von der Mannschaft bekam. Immer wieder schien sich meine Angst anzuschleichen, wie ein freches Kind, das verstecken spielen wollte. Mit fortschreitender Zeit schaffte ich es, sie abzuschütteln. Es dauerte eine Weile, bis ich mich traute etwas zu sagen. Zuerst gab ich lediglich Liam und Mason Tipps, da die zwei mir am wenigsten bedrohlich vorkamen. Als die anderen Spieler darüber keine Witze machten, begann ich Peter, Theo und Riccardo auf ihre Fehler hinzuweisen.

Wann immer mein Tipp, durch diese neue Art des Coachings, mit Argwohn ausprobiert wurde und schließlich eine deutliche Verbesserung brachte, nickten sie mir anerkennend zu und am Ende des Trainings lobten sie vor allem Liam für diesen Einfall. „Wieso haben wir den Kleinen eigentlich nicht schon früher eingeladen?“, fragte Theo lachend, als er sich mit einem Handtuch den Schweiß von der Stirn rieb. Ich spürte, wie ich leicht errötete, was dank meiner dunklen Haut nicht auffiel. „Ehrlich Liam, das war eine großartige Idee“, pflichtete ihm Riccardo bei. Mason war es schließlich, der mir die Videokamera aus der Hand nahm: „Das schauen wir uns morgen nochmal an. Dann sehen wir, was wir falsch gemacht haben und wie wir es verbessern konnten.“ Er klappte den Screen der Kamera zu und grinste mich mit seinen braunen Augen an: „Danke Cie, das war wirklich stark.“

Ich war zu verblüfft um zu sprechen. Nervös versuchte ich, meine Hände zu beschäftigen, doch so wirklich wollte mir das nicht gelingen. Mason beachtete mich schon nicht mehr. Er verschwand mit Riccardo, Theo und Peter plaudernd in der Dusche. Liam setzte sich neben mich auf die Bank und ließ den Ball immer wieder auf die Bank unter uns auf der Tribüne donnern, als könnte sein Körper sich nicht von dem Sport verabschieden. Seine grünen Augen leuchteten wieder und verliehen ihm einen Moment das Aussehen einer Katze. Ich konnte seinen Schweiß riechen und den seltsamen Geruch von Regen in seiner Kleidung.

„Ich sagte doch, wir sind nicht wie Kyle“, brach er nach einer gefühlten Ewigkeit das Schweigen. „Mhm“, machte ich unbestimmt und fummelte am Saum des Shirts herum, das ich trug. Ich sah sicher aus wie ein verunglückter Rapper mit dem langen Shirt und den viel zu großen Jogginghosen. „Hast du noch Angst vor mir?“, fragte er und ich blickte endlich zu ihm auf. Ich ertappte mich, wie ich innerlich den Kopf schüttelte. Nein, ich hatte vor Liam keine Angst mehr. Vielmehr wurde ich langsam neugierig auf ihn. Er war eine faszinierende Mischung aus dem starken Abziehbild eines typischen Sportlers und dem sanften vorsichtigen Fuchs. Anstatt das zuzugeben zuckte ich nur mit den Schultern: „Du hast es niemandem gesagt.“

„Ich habe den Pfadfinderschwur geleistet“; antwortete Liam verwundert, „Natürlich sag ich es dann niemandem.“ Wieder machte sich Stille zwischen uns breit. Ich ließ sie so lange da stehen, bis ich es selbst nicht mehr aushielt. „Danke, dass du vorhin“, ich sprach nicht weiter als mich der Mut verließ. Wieder fummelte ich an einem losen Faden des Shirts herum. Mein Blick klebte an meinen nassen Schuhen. „Du bist ein sehr trauriger kleiner Junge. Wieso gehst du freiwillig zum Nachsitzen, anstatt nach Hause gehen zu können? Ist es da so schrecklich?“, seine ruhige Stimme bereitete mir wieder einen Kloß im Hals und ich konnte nicht verhindern, dass ich nickte. Vielleicht lag es an dem ganzen Tag, vielleicht an dem nahen Todestag von Silla, vielleicht daran, dass Liam mir nichts getan hatte seit ich ihn kannte; ich wusste es nicht. Ich nickte und gab ihm dadurch mehr Informationen als ich Miss Auberny gestattet hatte.

Ich schaffte es nicht ihn anzusehen, während ich nach meiner Stimme suchte, die kaum mehr als ein Flüstern war: „Ich bin anders als die Menschen die du kennst.“ „Bist du ein Alien oder so?“, Liam grinste schief und kurz blitzte Schalk in seinen Augen, „Sowas wie Superman?“ Bei dem Heldennamen zog ich unwillkürlich den Kopf ein. Sillas Schreie stachen mir in die Ohren und ich kniff kurz die Augen zusammen. 

Silla war tot.

Ich hatte sie nicht retten können.

Es war meine Schuld.

Und trotzdem mussten wir beide über diese Frage kichern. Ich fragte mich, wie es Liam schaffte mich selbst in den düsteren Gedanken zu einem kurzen Glücksmoment zu führen. Ich schüttelte den Kopf: „Nein. Aber ich…nun ja…ich kann etwas Außergewöhnliches und ich will nicht, dass es jemand erfährt. Ich bin ein Monster.“ „Wenn du mit deinem Talent das Zauberkunststück meinst, dann frag ich mich, was an dir so monströs sein soll. Du sahst völlig verängstigt aus. Und angegriffen hast du mich auch nicht“, entgegnete Liam mir mit ernster Miene. Ich seufzte tief: „Das ist eine lange Geschichte und ich möchte gerade nicht darüber sprechen.“ Liam nickte: „Okay.“ Er fing den Ball auf und wirkte kein bisschen beleidigt. Verunsichert, ob ich etwas Falsches gesagt hatte, blickte ich auf das Spielfeld unter uns. „Hör mal“, begann Liam wieder, „Ich habe das Gespräch zwischen dir und Miss Auberny gehört, als ich gerade zum Training wollte. Ich wollte nicht lauschen, versprochen! Aber ich konnte nicht einfach an euch vorbeilaufen und euch stören. Darum habe ich gewartet. Ich weiß du hast irgendwie Angst vor mir und…ich will sagen, dass ich dir gerne zuhöre, wenn du mal jemanden brauchst. Und dass es mir leidtut, dass ich dich auf dem Basketball Cord so bedrängt habe.“

Dass er mich belauscht hatte sorgte für ein mulmiges Gefühl in meinem Magen. Er wusste, dass Silla gestorben war. Sein Angebot war ehrlich gemeint. Als ich ihn ansah konnte ich Sorge in seinen Augen lesen, die ich sonst nur von Nadiri kannte. Einen Moment wusste ich nicht, wie ich reagieren sollte, dann knuffte ich ihn in die Seite: „Schon gut. Tut mir leid, dass ich dich jeden Tag nachsitzen lasse.“ Liam lachte wieder. Sein Lachen klang seltsam vertraut und es sorgte für eine kleine Perle Glücksgefühl in meinem Innern, dass ich versuchte einzuschließen wie eine Perlmuschel ihren kleinen Schatz. Ich wünschte, ich könnte dieses Lachen aufnehmen und abends zum Einschlafen hören. Meine Stirn legte sich kurz in Falten. Hatte ich das gerade wirklich gedacht?

Liam stand auf und zog mich schließlich auf die Füße: „Komm kleiner Inder. Für heute ist gut. Wie wäre es, wenn wir nochmal von vorne beginnen? Ich bin Liam Hansborough und manchmal ein Volltrottel.“ Ich schlug in seine offene Handfläche ein ohne zu zögern und grinste verlegen: „Clemens Dubois…der Freak.“ Wieder mussten wir beide leise lachen. Als wir die Sporthalle verließen hatte es zu regnen aufgehört und die Sonne brach durch einzelne Wolken hindurch.

Es fühlte sich an, als wollte die Natur mein innerstes Malen. Diese kleinen Sonnenstrahlen waren die seltenen Lacher, die Liam gerade aus mir herausgekitzelt hatte. Das Wasser auf dem Asphalt schimmerte in Regenbogenfarben und blendete ein wenig. Liam lud mein Fahrrad auf seinen Pick Up und hielt mir die Tür auf. „Na dir, Clemens. Ich bring dich nach Hause“, obwohl ich protestieren wollte, kam kein Wort über meine Lippen. Stattdessen kletterte ich in Liams Wagen und ließ ihn mich nach Hause fahren.

Kapitel 3: Ein dreckiger Deal

Es war ungewöhnlich kalt im Büro der Schulleitung. Mr. Nyvé, unser Französischlehrer, und Mrs. Smith, die Sportlehrerin, saßen neben unserem Schuldirektor Mr. Kelly. Es wirkte wie bei einer Anklage. Mr. Kelly der Richter, die anderen beiden Lehrer die Schöffen und ich war der Angeklagte. Oder besser gesagt: Wir waren die Angeklagten. Ich saß neben Liam auf einem ungemütlichen Lederstuhl und wich den Blicken meiner Lehrer aus so gut es mir möglich war. Die Klimaanlage machte es noch ungemütlicher. Ich verstand nicht, wieso wir in der Schule nicht einfach die Fenster öffnen konnten um einen Durchzug zu erschaffen. Stattdessen wurden diese monströsen Maschinen angeschaltet die aus den Zimmern des Gebäudes eine Simulation des Nordpols machte.

Mr. Kelly faltete die dunkelbraunen Hände auf dem Schreibtisch vor ihm. Ich mochte unseren Direktor ganz gerne. Er war freundlich, erhob nie seine Stimme und war immer fair. Manchmal erinnerte er mich an meinen Großvater besonders dann, wenn er seine Nickelbrille aufzog. Seine kleinen Augen lagen auf mir und Liam. Liam, mit dem feuerroten Haar. Liam, der mich um drei Köpfe überragte, ein Jahr älter war als ich und Gliedmaßen besaß die einer Spinne gleichen konnten. Einer muskulösen Spinne.

Mr. Nyvé räusperte sich, gerade als ich erneut meine Sitzposition änderte um es irgendwie bequemer zu machen. Das Leder klebte an meiner Haut. Unser Französischlehrer hatte einen verkniffenen Mund. Er war zwar streng, aber nie unfreundlich. Lediglich ein wenig realitätsfern. Dahingehend war Mrs. Smith eine grausame Hexe. Oder vielleicht dachte nur ich so, weil ich den Sportunterricht nicht besuchte. Ich konnte ihn nicht abwählen, das bedeutete grundlegend, dass ich entweder die Teilnahme verweigerte, Entschuldigungen fälschte oder dem Unterricht fernblieb. Dieses Spiel trieb ich seit meinem siebten Lebensjahr. Seit das erste Mal die Hornplatten aufgetaucht waren. 

Und die Kiemen, wenn wir schwimmen gewesen waren. 

Und die plötzlichen Größenveränderungen meines Körpers. 

Und so vieles mehr.

Mrs. Smith versuchte alles, um mich dazu zu bringen mich ihrem Willen zu beugen. Drohungen, Elterngespräche, Nachsitzen. Ich hatte meine Einstellung nicht geändert. Mein Vater hatte versucht mit mir zu üben, sodass ich trotzdem Sport hätte machen können, doch die Übungen brachten kaum Erfolge und kamen schließlich zum Erliegen als Mutter immer mehr Alkohol und Tabletten nutzte um der Realität zu entfliehen. Wollte ich nicht in einem seltsamen Forschungslabor landen oder überhaupt mal wieder Anschluss finden, dann durfte niemand erfahren, was mit mir nicht stimmte.

„Also ihr beiden“, riss mich Mr. Kelly aus meinen Gedanken. Er strich über seine bunte Krawatte und lächelte uns an. Wieder wie ein freundlicher Großvater. „Mr. Nyvé hier hat mich davon in Kenntnis gesetzt, dass die Französischkenntnisse von dir Liam mehr als…dürftig sind.“ Ich schielte kurz zu Liam. Der Rotschopf saß völlig locker auf seinem Stuhl Die Arme auf den Lehnen und lächelte den Lehrern fröhlich entgegen. Etwas, das mir meine steife und unterwürfige Haltung erst recht vor Augen führte. Ich schluckte. Wieso trocknete bei dieser Klimaanlagenluft mein Hals gleich aus?

„Im Gegenzug sind Clemens Französischkenntnisse par excellence!“, fuhr Mr. Kelly stolz fort. „Merci beaucoup“, nuschelte ich in mich hinein. „Das ist nicht schwer. Clemens kommt aus Frankreich. Es wäre irgendwie traurig, wenn er die Sprache nicht könnte“, meinte Liam neben mir verschmitzt. Ich hob den Kopf und blickte ihn mit erschrocken großen Augen an, aber als er zu mir sah senkte ich sofort wieder den Blick. „Französisch ist einfach nicht mein Gebiet“, sagte er weiter, was Mr. Nyvé zu einem erschrockenen Einatmen provozierte. Ich wartete auf sein übliches Mondieu aber es blieb aus. Mr. Kelly nickte, die Ruhe selbst und hob kurz die Hand. Seine Handinnenflächen hoben sich hell von der restlichen Haut ab und ich dachte für einen Moment, dass meine Hände seinen doch ähnelten.

„Lass mich bitte aussprechen Liam“, untermalte er seine Geste mit Worten, „Im Gegenzug bist du unübertrefflich in Sport. Du hast gute Chancen auf ein Sportstipendium fürs College und ich bin stolz dich in unserer Basketballmannschaft zu wissen.“ Wieder schlich sich ein grinsen auf sein Gesicht, dass ihn irgendwie süß wirken ließ: „Go Owls!“ Es klang aufgesetzt und keiner von uns sagte ein Wort. Mr. Kelly räusperte sich, strich wieder über seine Krawatte: „Clemens hingegen weigert sich seit Jahren wirklich am Sportunterricht teilzunehmen. Er macht höchstens das Nötigste.“ Bei diesem Satz zog ich den Kopf ein. Es klang beschämend, dass ich nicht in allen Fächern mein vollstes Potential ausschöpfen konnte. Ich konnte die Blicke auf mir spüren und wünschte mir erneut unsichtbar zu sein. Sofort machte ich mich auf meinem Stuhl kleiner, blickte auf meine Hände die ich knetete.

„Im Bemühen neue Arten des gemeinschaftlichen Lernens anzuwenden und zu erproben haben wir uns gemeinsam dazu entschieden, dass ihr beide bis zum Ende des Jahres eine Tandemgruppe bilden werdet.“

„Tandemgruppe? Was heißt das?“, Liams Stuhl gab einen kurzen laut von sich als er sich vorlehnte. Ein plötzliches unergründliches Interesse in der Stimme. „Das bedeutet, dass Clemens dir, Liam, Nachhilfe in Französisch geben wird. Im Gegenzug wirst du mit Clemens Spot machen. Mrs. Smith wird die Sportnachhilfe für die letzten zehn Minuten jeder Stunde kontrollieren, Mr. Nyvé die letzten zehn Minuten der Französischnachhilfe. Wir appellieren an euere Eigenverantwortung und glauben, dass vielleicht der Druck durch Lehrer und Mitschüler zu groß ist, um euch das sichere Gefühl zu geben euch entfalten zu können“, erklärte Kelly weiter. Während ich seinen Worten lauschte schoss mein Kopf in die Höhe. Angst schnürte mir schmerzhaft den Magen ab. 

Hatte ich das gerade richtig gehört? Ich sollte Sport machen? Mit Liam? Wie stellten sich die Lehrer das vor? „Das geht nicht“; sagte ich ohne nachzudenken und zog damit alle Blicke erneut auf mich. „Und wieso geht das nicht, Clemens?“, Mrs. Smith Stimme hatte einen spitzen schneidenden Tonfall angenommen. „Weil“, begann ich ohne eine Antwort auf diese Frage zu haben und angelte fieberhaft nach Strohhalmen in meinem Gedächtnis, „Weil…die Clubs! Ich habe so viel damit zu tun und…und…und er hat Basketballtraining.“ Enttäuscht schüttelte meine Sportlehrerin den Kopf. „Clemens, das hier ist kein Angebot, dass ihr ausschlagen könnt. Es ist beschlossene Sache. Sonst werden wir euch nicht versetzen können“, Mr. Kellys Blick ruhte auf mir. Eine seltsame Traurigkeit darin, die ich nicht verstand. „Oh“, machte ich und senkte wieder den Blick.

„Die erste Nachhilfestunde beginnt heute Nachmittag. Wir haben euch einen Plan aufgestellt“, die Lehrer gaben uns ein Stück Papier. Es erinnerte mich schmerzhaft an meinen ersten Schultag nach Sillas Tod. Meine Hände zitterten leicht, als ich den neuen Plan an mich nahm. „Am Ende des Monats werdet ihr einen Test ablegen. Liam in Französisch, Clemens in Sport. So wird sich euere Note nach und nach zusammensetzen.“ Ich nickte leicht.

„Dann auf eine gute Zusammenarbeit“, hörte ich Liam sagen, als sich seine Hand in mein Blickfeld schob. Vorsichtig sah ich auf, scheu, nur um sofort wieder weg zu sehen und nahm seine Hand. „Auf gute Zusammenarbeit“, nuschelte ich. „Sehr schön! Ihr werdet sehen, im Handumdrehen habt ihr eure Noten aufgebessert“, meinte Mr. Nyvé anfeuernd. Liam und ich drehten den Kopf um die drei Lehrer anzusehen. Die Hände noch immer in einem halben Handschlag zusammengelegt. Ich konnte nur vermuten, dass Liam genauso missbilligend oder wertend auf unseren Französischlehrer blickte wie ich. Dieser räusperte sich kurz und strich nun ähnlich wie Mr. Kelly über seine Krawatte: „Nun…ihr könnt gehen.“ Ich löste meine Hand von Liam, packte meine Tasche und verließ das Direktionsbüro.

Auf dem Weg zu meinem Spind öffnete und schloss ich die Hand mit der ich Liams Hand geschüttelt hatte, als müsste ich mich vergewissern, dass ich ihn gerade wirklich angefasst hatte. Meine Hand war in seiner verschwunden. Er war so ein großer Mensch. Wie konnte jemand so groß werden? Seine Haut war weich gewesen. So weich wie die von Nadiri. Vielleicht benutzte er ja Handcreme, schoss es mir durch den Kopf den ich sofort schüttelte. 

Welch ein absurder Gedanke. 

Was für ein dreckiger Deal. 

Was für eine beschissene Situation.

Den ganzen Tag dachte ich fieberhaft darüber nach, wie ich aus diesem Deal aussteigen konnte. Aber mir viel nichts ein. Schließlich hatte ich mich so sehr in meine Angst und Abneigung herein gesteigert, dass ich zu Miss Auberny ging und feste an die Tür der Psychologin klopfte. Ihr helles „Herein“ kam, als ich bereits eingetreten und das Holz hinter mir ins Schloss gezogen hatte.

„Clemens, guten Tag, was kann ich für dich tun?“, fragte sie nur semi-überrascht. Offensichtlich kam ich wohl öfter unangemeldet in ihr Büro oder hatte sie mich erwartet? Ich pokerte auf letzteres und hoffte, dass mir lange Erklärungsversuche erspart blieben.

„Ich kann das nicht machen!“, sprudelte ich hervor, „Ich kann ihm keine Nachhilfe geben und er mir nicht. Das geht einfach nicht! Ich will das nicht machen und mich kann niemand dazu zwingen. Sagen Sie Mr. Kelly, dass er mich nicht dazu zwingen darf!“

Miss Auberny hob die Hände: „Ganz ruhig, Clemens. Setz dich erst einmal. Ich verstehe deine Aufregung. Lass uns in Ruhe darüber sprechen.“ Sie deutete auf ihre Sofas und ich atmete tief durch. Meine Hände zitterten, meine Angst machte es schwierig das aufsteigende Gefühl zu kontrollieren, das meine Mutation meist begleitete. Vorsichtig setzte ich mich, als könnte das Sofa mich auffressen, wenn ich nicht vorsichtig genug war. Miss Auberny zog einen Stuhl heran, anstatt sich auf die andere Couch zu setzen und sah mich an.

„Bitte Miss Auberny, ich kann das nicht“; wiederholte ich mit angsterfülltem Blick.

„Was macht dir solche Angst, Clemens?“

„Nichts. Ich habe keine Angst!“, versuchte ich meinen Ausbruch herunter zu spielen, „Ich will einfach nicht so einem miesen Deal zustimmen müssen. Mich hat niemand gefragt. Und dieser Liam ist einfach…einfach…“ Mir gingen die Worte aus. Weil mir nichts einfiel, was mich nicht neugierig auf ihn machte. Dann fielen mir die letzten Tage ein. Tage in denen ich Liam immer wieder aus dem Augenwinkel gesehen hatte. Erst gestern, als mich wieder jemand aus der Footballmannschaft auf dem Schulhof verprügelt und bespuckt hatte. Liam hatte danebengestanden, als mein Mathebuch zerrissen wurde und ich für den Schaden aufkommen musste. Ich hatte ihn nicht richtig sehen können, aber sein rotes Haar war mir aufgefallen und als ich erneut hinsah, war er verschwunden. Liam war wie alle anderen Sportler. Früher oder Später würde er mich in eine Kabine der Jungentoilette zerren und meinen Kopf unter Wasser tunken. Oder er würde mir auf dem Schulweg auflauern, irgendetwas Verletzendes vor anderen Menschen über mich sagen und darauf warten, dass ihm die anderen Sportler zujubelten.

Miss Auberny sah mir geduldig zu, wie meine Gedanken sich lesbar über meine Gesichtszüge ausbreiteten. Erst als ich nicht mehr weitersprach, räusperte sie sich: „Clemens ich habe das Gefühl, dass du Angst vor Liam hast. Ist das richtig?“

„Nein. Ich habe keine Angst. Ich möchte einfach nicht so eine dumme Tandemgruppe machen. Wieso muss ich denn eine Sportnote haben die gut ist? Ich will ja kein Sportstipendium und ich bin einfach nicht talentiert in irgendeiner Sportart. Es ist mir zuwider wie ein idiot durch die Gegend zu rennen und dann verschwitzt herum zu sitzen. Versteht denn niemand, dass ich das Recht habe mich frei zu entfalten?“, brauste ich auf und verschränkte trotzig die Arme vor der Brust, „Niemand hat uns gefragt!“

„Es stört dich, dass wir euch nicht in unsere Entscheidungsfindung eingeschlossen haben?“

„Ja“, meinte ich hoffnungsvoll, „Wir haben da doch auch mitzureden.“

Miss Auberny wiegte den Kopf hin und her und offensichtlich überdachte sie ihre Worte: „Hast du einen alternativen Vorschlag um das Problem eurer Noten zu lösen? Jedes College wird dich eines Tages fragen, wieso du in allen Fächern solch gute Noten bekommen hast und nur wegen Sport nicht den Durchschnitt erlangt hast, den du gerne gehabt hättest.“

„Es ist doch völlig egal, ob ich in Sport eine gute Note habe“, setzte ich dagegen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass irgendjemand sich ernsthaft darüber Gedanken machen würde. Wieso auch? Es war nur ein einziges Fach. Sonst lag ich ständig über dem Durchschnitt. Ich musste zugeben, dass vielleicht gerade das für Misstrauen sorgen könnte. Was sollte ich sagen? Entschuldigung ich kann nicht am Sportunterricht teilnehmen, weil mein Körper unberechenbare Änderungen vornimmt und ich dann als Experiment unter dem Skalpell landen würde? Ich schüttelte bei diesem Gedanken den Kopf.

„Clemens, es ist eine offensichtliche Anomalie für dich und das wird Fragen aufwerfen. Aber nun gut, du möchtest keine Sportnote, das habe ich verstanden. Was ist mit Liams Französisch? Möchtest du ihm nicht helfen?“, versuchte die Psychologin die Thematik von einer anderen Seite aufzurollen. Ich runzelte die Stirn. Ich wollte nichts mit Liam zu tun haben. Es reichte schon, dass Rotkäppchen mit mir in verschiedenen Kursen war und ständig neben mir sitzen musste, weil sonst kein anderer Platz frei war. Ich hatte genug auf den Gängen mitbekommen, wie sie über Liam und mich tuschelten, einzig aus dem Grund, dass er neben mir sitzen musste. Die Tatsache, dass er jeden Tag versuchte ein Gespräch mit mir zu beginnen ließ ich galant unter den Tisch fallen. Miss Auberny wusste leider, dass ich mit meinem Helfersyndrom nur schlecht nein sagen konnte, wenn es darum ging, dass ich wirklich helfen konnte. Noch bevor ich zu sprechen ansetzen konnte setzte sie hinzu: „Wie wäre es, wenn du das wie die ersten Therapiestunden betrachtest? Versuch es mal und wenn du dann bemerkst, dass es wirklich nicht geht, dann können wir uns etwas anderes überlegen. Und wer weiß, wenn du Liam eine ernsthafte Chance geben kannst, dann könnte daraus eine neue Freundschaft entstehen.“

Ich verzog bei diesen Worten das Gesicht. Eine neue Freundschaft? Ich war eine Abnormalität der Natur. Wie stellten sich die normalen Menschen vor, dass ich Freunde finden sollte. Ich musste ständig aufpassen nicht zu einem Monster zu mutieren. Ich seufzte. „Na gut“, lenkte ich schließlich maulend ein, „Na gut ich versuche es.“ Auf Miss Aubernys Lippen breitete sich ein erfreutes Lächeln aus, als hätte ich ihr gerade den letzten Schokonikolaus versprochen. „Das finde ich sehr mutig von dir Clemens“, sprach sie, als hätte ich ihr gesagt, dass mir diese Tandemidee Angst machen würde. Ich ersparte es mir, sie zu korrigieren. Stattdessen nickte ich nur und verließ ihr Büro wortlos. Mir blieb wohl nichts anderes übrig als in den sauren Apfel zu beißen. Und ich hasste es, dass ich dazu gezwungen war.

Liam war einer der Sportler. Die waren alle gleich. Er würde sich genauso über mich hermachen wie es Kyle und seine Jungs schon taten. Davon war ich überzeugt. Obwohl ich mit den Basketballern noch nicht viel Kontakt hatte. Da erinnerte ich mich an Mason. Er war mein bester Freund gewesen, bis er in den Sport gewechselt war und den Naturwissenschaften den Rücken gekehrt hatte. Er hatte aufgehört mit mir zu sprechen und irgendwann begonnen stattdessen über mich zu sprechen. Alles andere als nette Dinge. Bei der Erinnerung an unsere glückliche Kindheit drehte sich mir der Magen um. Ich hatte nie wieder einen Freund wie Mason gefunden. Schnell stolperte ich auf die Toilette und übergab mich. Mir war egal, ob ich heute die erste Nachhilfe in Französisch geben sollte, ich würde nicht hin gehen. Stattdessen schwang ich mich aufs Rad und fuhr zur Swadeswan Lake Bibliothek. Ein heruntergekommener Altbau. Hier versteckte ich mich, wenn ich weder nach Hause noch in der Schule bleiben konnte. Ich vergrub mich zwischen den dicken Lexika und machte meine Hausaufgaben. Im Stillen meiner Gedanken verfluchte ich die Lehrer mit allem, was mir an Flüchen einfiel.

Drei Wochen später fand ich mich in der Schulbibliothek wieder. Es war ruhig zwischen den duftenden Ledereinbänden, wie es sich für eine Bibliothek gehörte. Das leise Gemurmel an den umliegenden Tischen beruhigte mich, während ich nervös an der Ecke meines Französischbuchs herumnästelte. Es war nicht die erste Nachhilfestunde in Französisch. Nachdem ich bei der ersten Stunde nicht dagewesen war, hatte ich genug Rüffel von den Lehrern bekommen, dass ich mich ernsthaft damit auseinandergesetzt hatte, ob Nachsitzen sich gut auf meinem Zeugnis machen würde und beschlossen das mit der Tandemlerngruppe zumindest für Liam zu versuchen. Liam war zu spät. Mal wieder. Es machte mich wütend und nervös zugleich. Ich war mir sicher, dass er über mich bei seinem begehrten, beliebten Kumpel sprach und ihnen damit neuen Zunder gab um mich zu schikanieren. Dass er mich hier sitzen ließ zeigte mir, wie weit weg Liam Hansborough von Anstand entfernt war: Mehrere Lichtjahre. Ich hatte besseres zu tun, als hier auf den Nachfahren der Swadeswan Lake Gründer zu warten. Warum wartete ich dann eigentlich auf ihn? Mir ging dieser Deal einmal mehr auf die Nerven und ich rutschte unbehaglich auf meinem Stuhl herum. Liam wollte offensichtlich keine Hilfe von mir annehmen. Mir, dem Loser der Schule, dem Menschen, der keine Freunde besaß, der allseits als verhasste Streber und Nerd bekannt war. Und Freak. Nicht zu vergessen Monster.

Meine braungrünen Augen fixierten die Tür, nachdem ich einen Blick auf die Uhr geworfen hatte. Es war die sechste Nachhilfestunde. Im Moment war Liam ganze zwanzig Minuten zu spät. Das letzte Mal hatte er sich eine dreiviertel Stunde Zeit gelassen, davor war er nicht aufgetaucht. Lediglich die ersten drei Stunden hatten wir es geschafft zu lernen. Da war Liam dreißig Minuten zu spät gekommen.

Wieder seufzte ich ergeben, als die Tür der Bibliothek sich öffnete und eine Schülerin zwischen den Bücherregalen verschwand. Nirgends war nur die Spur eines Rotschopfes zu sehen, einem schlaksigen, langen Jungen, der im Stehen die Decke berühren konnte. Nirgends das schwarze Tanktop, das Liams Brust im Unterricht bedeckte und kein kariertes Muster eines Kurzarmhemdes, das sich über die Muskeln an seinen Oberarmen spannte. Ich hatte ihn beobachtet in den letzten Tagen. Mein Blick wanderte zurück auf das Französischbuch. Das Wörterbuch, welches ich extra aus dem Bücherregal genommen hatte. Die Zeit verging, das Ticken der Uhr begann die Stimmen der weniger werdenden Schüler zu übertönen, bis ich nur noch unter vereinzelten Schülern in der Bibliothek saß. Bei einem weiteren Blick auf die Uhr entschied ich, dass ich jetzt wirklich genug gewartet hatte. Ich wollte aufstehen, da setzte sich ein Mädchen mit blauen Augen und dunkelbraunen Haaren mir gegenüber: Georgina Viviani. Ich zuckte kurz zusammen und versuchte sie nicht unverhohlen anzustarren. Seit dem Kindergarten wohnte sie zwei Straßen weiter und wir hatten früher miteinander gespielt. Ihre schiefe Nase hatte sie zu einer kleinen Zielscheibe gemacht, als wir jünger gewesen waren, doch jetzt auf der Highschool schien das keinen mehr zu stören. „Hey Clemens“, begrüßte sie mich mit ihrer rauchigen Stimme. Das Gerücht, sie sei heimliche Raucherin hielt sich hartnäckig. „Du wartest jetzt eine Stunde hier ohne etwas zu machen. Ist der Neue wieder zu spät?“

„Was?“, fragte ich verwirrt, weil ich von ihrer Erscheinung einen Moment verzaubert gewesen war und so nur die letzten drei Worte ihrer Frage mitbekommen hatte.

„Der Neue und eure Nachhilfe“, sie deutete auf die Bücher vor mir, „Er ist wieder zu spät oder hat er dich heute einfach sitzen gelassen?“

„Ich denke es ist recht eindeutig zu diesem Zeitpunkt, dass er mich sitzen gelassen hat“, antwortete ich und fragte mich, wieso ich nicht wie ein normaler Mensch klingen konnte. Georgina kicherte über meine Ausdrucksweise.

„Das muss wirklich ärgerlich sein. Hast du schon einen Projektpartner für das Geschichtsprojekt für das Stadtmuseum?“, sie nahm eine kleine Tüte Nüsse hervor und steckte sich eine in den Mund, bevor sie mir eine anbot. Ich zögerte kurz, nahm mir dann aber eine heraus.

„Danke“, nuschelte ich und schüttelte den Kopf.

Georgina lächelte sanft: „Hast du Lust mit mir daran zu arbeiten? Wir würden das bestimmt gut hinbekommen.“ Ich zuckte mit den Schultern. „Klasse“, freute sie sich, als hätte ich gerade zugestimmt. Hatte ich mit dem Schulterzucken zugestimmt? War das eine neue Form des Ja-sagens ohne, dass mich jemand darüber aufgeklärt hätte? „Dann würde ich vorschlagen wir treffen uns morgen früh vor der ersten Stunde und besprechen alles“, fuhr sie begeistert fort und reichte mir die Packung Nüsse. Galant schulterte sie ihre Tasche und warf ihre Haare nach hinten. War es nicht zu heiß für offene Haare?

„Bis morgen Clemens, ich freu mich drauf!“, sagte sie noch begeistert zum Abschied, als von der Tür ihr Namen gerufen wurde, eine Freundin von ihr. Da fiel mir erst auf, dass die beiden Badematten aus der Tasche ragen ließen. Sie gingen schwimmen. Eine typische Freizeitbeschäftigung? Wann war ich das letzte Mal unter Normalsterblichen gewesen? Ich sah ihr einen Moment nach, dann stand ich auf, wobei ich erst bemerkte, dass meine Pobacke eingeschlafen war. Es kribbelte, als ich mich zu dem Regal bewegte, aus welchem ich das Wörterbuch für Liam herausgezogen hatte. Ich hatte gedacht ich könnte ihm helfen. Dass er nicht aufgetaucht war ließ in mir das Gefühl wachsen, dass er mir gerade ins Gesicht gespuckt hatte. „Arrogante, hochnäsige Sportler“, murmelte ich wütend, obwohl es mir egal sein sollte, ob er zu der Nachhilfe kam oder nicht.

Schließlich war ich nicht besser, schoss es mir durch den Kopf als ich die Nüsse in meine Tasche packte. Ich war noch nicht ein einziges Mal in der Sporthalle oder auf dem Basketballplatz erschienen, wenn es eigentlich von den Lehrern verlangt war, dass Liam mit mir Sport machte. Ich konnte da einfach nicht hin gehen. Im Alltag war es schwer genug diese Mutationen zu verhindern und meine Gefühle im Zaum zu halten. In Sport war es unmöglich. Ich brauchte keinen Sportunterricht.

Bei dem Gedanken zuckte ich zusammen, weil mir mit einem Mal klar wurde, was Liam wohl denken musste, wenn er zu den Nachhilfestunden kam. Er glaubte sicher, dass er die französische Sprache nicht brauchte, so wie ich dachte, den Sport nicht zu benötigen. Trotzdem war er zu den Stunden gekommen. Ich runzelte die Stirn, dann packte ich meine restlichen Sachen und ging durch die leeren Flure. Am Hinterausgang der Schule bemerkte ich die pralle Nachmittagssonne, die durch die Fenster schien. Es war noch recht heiß und totenstill in der Schule.

Die Clubs und außerschulischen Aktivitäten waren vorbei. Es war Abend. Wann war ich zuletzt so lange in der Schule gewesen? In den ersten Monaten nach Sillas Tod. Damit ich nicht nach Hause gehen musste.

Ich trat aus dem Gebäude ins Freie, wo mich die Hitze nach der klimatisierten Luft im Gebäude erschlug. Vögel zwitscherten träge in den knochigen Bäumen auf dem Gelände und ich atmete tief durch. Meine Lungen fühlten sich an, als wäre ich Ewigkeiten unter Wasser gewesen. Die Schule zu verlassen, zumindest das Gebäude, stellte sich seit einem Jahr als Befreiung dar. Einen Tag mehr hatte ich in dieser Hölle überlebt. Dabei war die Schule eine angenehmere Hölle als mein zu Hause. Meine Ohren vernahmen rhythmische Laute. Das dumpfe Nachhallen eines Hohlkörpers, der mit Luft gefüllt war und in einem gleichmäßigen Abstand auf den heißen Teer gedonnert wurde. Langsam wandten sich meine Schritte nach rechts, um das Schulgebäude herum, zu dem Basketball Cord der dort aufgebaut war und jetzt, im späten Nachmittag, in der prallen Sonne stand. Bis zu dieser Zeit lag er im Schatten was in Swadewan Lake für den Sportunterricht meist am wichtigsten war.

Ich bemerkte rote Flammen auf einem schmalen Gesicht. Liams Züge waren verkniffen, seine hager muskulöse Gestalt von einem feinen Schweißfilm überzogen. Er zielte auf den Korb, hinter dem die Sonne stand die ihn blendete. Die gebräunte Haut schimmerte leicht. Liam war hochkonzentriert und bemerkte mich nicht. Ich glaubte jedenfalls, dass er mich nicht bemerkte. Langsam und vorsichtig schlich ich näher, beobachtete wie er den Korb anvisierte den Wurf anpeilte. Beinahe vom anderen Ende des Platzes aus landete der Basketball direkt im Korb, ohne aufzuprallen. Mein Gehirn überschlug die Physik des Wurfes mehrmals, während ich am Tor des Maschendrahtzaunes stand und mit offenem Mund den Ball beobachtete, der immer träger auf und ab hüpfte. Die Eleganz mit der Liam diesen Sport ausübte war nicht von der Hand zu weißen. Ich schüttelte schnell meinen Kopf. Ich hasste Sport. Das sollte ich nicht vergessen. Obwohl ich mir da mit einem Mal nicht so sicher war. Vielleicht hätte ich wirklich Spaß an einer Sportart gefunden, wäre ich nicht ich. Wäre ich ein anderer, dann hätte ich die Chance dazu gehabt es herauszufinden. Clemens Dubois war kein anderer als Clemens Dubois. Damit musste ich mich abfinden.

„Ich dachte schon du würdest gar nicht mehr zwischen deinen Büchern hervorkommen“, ich zuckte zusammen als Liams kratzige Stimme direkt neben mir erschallte. Langsam hob ich den Blick, riss ihn von dem nun auf dem Cord liegenden Ball los, und blinzelte den Rothaarigen an. Er hatte einen krummen Eckzahn als er grinste. Es sah aus, als hätte sein Körper sich überlegt ein Wolf zu werden, sich im letzten Moment umentschieden. Sicher sah ich aus wie eine verirrte Kuh, wie ich hier stand und ihn anstarrte. Liams Grinsen wurde breiter. Ich machte mich hier völlig zum Klops oder etwa nicht? Mein Körper wich automatisch zurück, als Liam die Hand ausstreckte. Vergessend, dass uns ein Zaun trennte, stieg Angst in mir auf, als seine schlanke Hand sich mir näherte. Gedanken strömten unaufhaltsam in meinen Kopf: Gleich würde er mich würgen, er will mich schlagen oder irgendetwas, was die anderen Sportler so lustig fanden.

Liams Hand glitt nur zu der Klinke des Tors, drückte sie sanft hinunter und öffnete sie. Lässig lehnte er sich einen Moment gegen das Tor, weil die rostigen Scharniere klemmten, und schob sie dann auf. Er vollführte eine einladende Handbewegung.

„Was soll ich denn da?“, fragte ich, gleichermaßen verwundert und skeptisch, als ich endlich meine Stimme wiederfand. Wollte Liam hier eine Show abziehen, wie alle anderen es taten? Sind wir mal lieb zu dem kleinen Streber, damit er uns vertraut und dann hauen wir ihn richtig in die Pfanne? Ich drehte den Kopf hin und her, suchte Anzeichen, dass das Basketballteam hinter einer Ecke lauerte und nur darauf wartete, dass ich mich in den Käfig begab um mir irgendetwas anzutun, von dem ich nicht wissen wollte, was es war.

„Ich bleibe lieber hier draußen“, setzte ich noch rasch hinzu und trat demonstrativ noch einen Schritt zurück. Liam beobachtete mich eingehend, während ich in meiner Skepsis verharrte. Er schmunzelte leicht. Jetzt. Jetzt würde er sich gleich auf mich stürzen, dachte ich bitter und wartete sehnlichst darauf, dass es vorbei sein möge. Entgegen all meiner Überzeugung, dass Liam mir etwas Böses wollte, trat dieser nicht auf mich zu. Stattdessen ließ er das Tor offen und holte seinen Ball.

„Weißt du, es ist nicht sehr sportlich und fair von dir, wenn ich ständig in die Bibliothek renne um meine aufgebrummte Nachhilfe in dieser unsäglichen Sprache zu nehmen und du nicht ein einziges Mal zu deiner Nachhilfestunde in die Sporthalle kommst“, sagte er in einem so unbeschwerten Tonfall, als wären wir schon die besten Freunde. Hatte er gerade meine Muttersprache beleidigt? Wobei, wer tat das nicht, der Französisch lernen musste und nicht damit aufgewachsen war. Noch mehr irritierte mich der plötzliche Tonwechsel, mit dem er mir gegenübertrat, hatte ich sonst von Liam nur feindselige Blicke und bissige Kommentare bekommen, wenn wir Französisch lernten. Bekam Liam ärger, wenn ich nicht in der Sporthalle auftauchte? Ich war den Lehrern in diesem Punkt aus dem Weg gegangen, sodass keiner es geschafft hatte mit mir darüber zu sprechen.

Ich war noch immer in meinen Gedanken versunken, als sich Liam zu mir umdrehte und den Ball gemütlich auf und ab warf, als läge es in seiner Natur: „Daher habe ich beschlossen, nicht mehr zu der Nachhilfe zu gehen. Da du ja nie zu deiner Nachhilfe kommst.“ Erneut schaffte ich es nur zu blinzeln, dann biss ich mir auf die Unterlippe. Was machte ich mir vor? Sicher bekam Liam ebenso Ärger wie ich, wenn er nicht zu seiner Nachhilfestunde kam.

„Was ist, willst du jetzt auch mal deine erste Nachhilfestunde?“, fragte er und hielt mir den Ball hin. Sein Arm erschien mir so lang, dass es mir vorkam als würde der Rest von Liam kilometerweit entfernt stehen. Ich zögerte. Ich wollte ihm keinen Ärger machen, dass hatte er nicht verdient, selbst als einer der Sportler. Was würde geschehen, wenn ich mich wieder nicht unter Kontrolle hatte? Wenn mein Körper wieder tat, was er wollte und ich es nicht verhindern konnte? Niemand in der Schule wusste, dass diese Videos keine Spezial Effekte hatten, die von mir im Internet gezeigt wurden. Sonst wäre ich vermutlich längst auf einem Seziertisch gelandet.

„Ich…“, begann ich, aber Liam unterbrach mich. Er kratzte sich kurz mit einer Hand am Hinterkopf: „Weißt du, ich beiß nicht, Clemens. Vielleicht erscheine ich oft nicht als der Netteste…zugegeben ich bin nicht besonders Nett, wenn es um die Nachhilfe in Französisch geht. Aber wir sind dazu verdonnert worden. Lass uns vielleicht einfach das Beste daraus machen, oder? Wir sind uns doch in dem Punkt einig, dass wir beide keinen Spaß haben.“ Langsam nickte ich. Es klang logisch, trotzdem blieb ich skeptisch. Ich legte meine Tasche weg, nahm den Ball als wäre er eine Bombe und trat steif in den Cord, als hätte Liam mir gesagt ich solle mit nichts als einem Wattebausch gegen einen ausgewachsenen Tiger kämpfen. Erstaunlicherweise lachte er mich nicht aus.

„Es ist gar nicht so schwer. Du musst nur den Ball in den Korb werfen“, sprach er mir Mut zu, als würde er mit einem Kind sprechen, dass noch nie von Basketball gehört hatte.

Ich drehte das ungewohnte Material in meinen Händen hin und her, ehe ich an den Korb trat. Als ich den Kopf in den Nacken legte bemerkte ich, dass ich direkt unter dem Metallnetz stand. Ich trat zurück und fand auf dem Boden die ausgebleichte drei Punkte Linie. Die müsste der Hausmeister mal wieder nachzeichnen. Langsam hob ich die Arme zu einem Wurf. In der Theorie wusste ich, was ich zu tun hatte. Arme heben, Ball an den Fingerspitzen halten, zielen, aus dem Handgelenk abdrücken. Der Ball würde eine Kurve in der Luft zeichnen, sich mit großer Wahrscheinlichkeit drehen, ehe die Schwerkraft ihn zurück zur Erde zwingen würde. Während dieser Flugbahn würde oder würde er nicht die Platte hinter dem Netz treffen und neben dem Netz auf dem Boden fallen. Bei einer richtigen Zielgenauigkeit, wenig Luftwiderstand und genug Kraft, würde er vielleicht perfekt im Netz landen. Eine andere Möglichkeit war, dass er auf dem Ring kreise drehte oder davon abprallen würde. Das gezeichnete Viereck auf der Platte konnte ich nutzen um meinen Wurf anzupeilen, wie der Ball von der Platte abprallend im Netz landen könnte. Wie gesagt, in der Theorie wusste ich, was ich machen musste.

Doch ich warf nicht. Meine Brust fühlte sich eng an. Als gäbe es nicht genug Platz für Sauerstoff. Bilder flammten vor meinem inneren Auge auf. Dehnende Gliedmaßen, Hornplatten, das plötzliche auftauchen von animalischen Merkmalen um meinen verschwitzten Körper zu kühlen. Langsam ließ ich den Ball fallen und schüttelte den Kopf: „Sorry Liam, ich mache keinen Sport.“ Meine Stimme klang wie die eines Roboters, der nur einen Satz gelernt hatte.

„Sieht man dir gar nicht an. Du bist wohl genauso so ein Sturkopf wie ich, was?“, entgegnete Liam und ich schaute durch die Lieder zu ihm auf, „Clemens, wenn du jetzt gehst halte ich dich nicht auf, dann sehen wir uns wahrscheinlich bald wöchentlich beim Nachsitzen.“ Ich runzelte die Stirn. Erst jetzt bemerkte ich, wie Liam darauf bedacht war, Abstand zu mir zu halten. Als wollte er mir jederzeit die Möglichkeit zur Flucht lassen. Mit einem Mal fühlte er sich nicht mehr so bedrohlich an wie noch vor wenigen Minuten. Er würde mich gehen lassen ohne mir etwas zu tun? War das die Wahrheit?

Ich runzelte die Stirn. Nachsitzen brachte schlechte Beurteilungen. Ich brauchte eigentlich einen tadellosen Ruf für die Universität, bedachte man meine bekannten Internetauftritte, die mir von vorneherein Minuspunkte geben würden. Ich spürte den Blick von Liams jadegrünen Augen auf mir. War er noch einen Schritt zurückgetreten um zu demonstrieren, dass von ihm keine Gefahr ausging? Diese ganze Situation schien mich langsam zu überfordern. Die High School Hierarchie sah nicht vor, dass Liam mich mochte. Sie sah nicht vor, dass Liam nett zu mir war. Sie sah nicht vor, dass jemand wie Liam sich überhaupt mit mir zeigen sollte. Nein, Liam und ich würden niemals Freunde werden, egal wie sehr die Lehrer sich das durch diese kleine Tandemgruppe erhofften.

Mein Blick glitt zurück zu dem Ball vor meinen Füßen. Ich hob ihn auf, hob die Arme und warf. Der Basketball beschrieb eine perfekte Flugbahn, prallte von der Ecke des gezeichneten Vierecks auf dem Brett hinter dem Korb ab und landete perfekt im Netz. Es klirrte leise, als die Kettenglieder aneinanderschlugen, dann war der Aufprall zu hören.

„Wow“, staunend pfiff Liam durch die Zähne und fing den Ball auf, der in seine Richtung hopste, „Du kannst ja echt gut werfen.“ Ich zuckte zur Antwort mit den Schultern und ging mit gesengtem Kopf zum Tor: „Jetzt war ich ja da. So bekommst du keinen Ärger mehr.“ Ich wusste, dass das nicht stimmte. Da die Lehrer in den letzten zehn Minuten unserer Stunden dazu kamen um zu kontrollieren, würde auffallen, dass ich nicht da war. Ich fragte mich, wieso heute kein Lehrer in die Bibliothek gekommen war. Hatten sie es vergessen? Oder vielleicht aufgegeben?

Ich wollte gerade nach meiner Tasche greifen, als Liams Stimme erneut ertönte: „Wieso lässt du das mit dir machen?“ Ich erstarrte in der Bewegung, dann drehte ich mich zu ihm um: „Was?“ „Das auf dem Schulhof neulich. Wenn ich keinen Lehrer geholt hätte, dann hätten die dich noch totgeprügelt.“ Er hatte den Lehrer geholt? Ich starrte ihn eine Weile an, unfähig das Ausmaß dieser Information einzuordnen, das völlig gegen meine Überzeugung stand, den Kopf schief gelegt. „Ich bin nicht tot zu prügeln“, entgegnete ich endlich. Liam schien das nicht zu genügen. Er runzelte die Stirn, was ihm leichte Fältchen um die Augen bescherte, und betrachtete mich, als wäre ich ein Rätsel, dass er unbedingt lösen wollte. 

Anstatt etwas zu sagen warf er mir den Ball zu: „Eins gegen Eins. Drei Körbe gewinnt.“ Ich zuckte zusammen, fing den Ball aus Reflex auf und taumelte zurück, als mich Liam ohne weitere Vorwarnung anrempelte und mir den Ball abnahm. Mein Wettbewerbsgeist setzte ein und unterdrückte alle anderen Gedanken sofort. Noch ehe ich bei ihm angelangt war hatte er einen Korb gemacht. „Bist du wirklich so langsam?“, provozierte er mich mit einem frechen grinsen und heizte das Verlangen gut zu sein und Erfolge zu erzielen in mir weiter an. Ich stürmte auf ihn zu. Obwohl ich kleiner war als er, schaffte er es nicht mich in Schach zu halten.

Wie er zuvor, rempelte ich ihn an und nutzte den Schwung meines Laufes und meine ganze Körperfläche. Ich hörte, wie ich ihm kurz die Luft aus den Lungen presste und in diesem unachtsamen Moment den Ball an mich nahm. Was ich nicht bemerkte war, dass meine Muskeln leicht anschwollen und anwuchsen, als ich das tat um mehr Kraft in meinem kleinen Körper aufzubauen. Um schnell genug zu sein wandelte sich mein Körper in eine dünnere Stromlinienform, ähnlich die eines Sprinters. Ich machte meinen ersten Korb, ohne zu bemerken, dass Liams Augen vor Erstaunen größer wurden.

Während dem nächsten Zweikampf musste ich sogar herzhaft lachen. Lachen aus vollem Herzen. Ich hatte schon so lange nicht mehr so gelacht. Es klang wie die Musik aus einer anderen, längst vergessenen Welt, die meinen Körper ausfüllte und mein Herz zum Schlagen brachte. Musik die mich daran erinnerte, dass ich noch ein Herz besaß. Musik die mir Leben einhauchte. Durch den ganzen Spaß wurde ich noch unaufmerksamer. Es trat ein, was schon immer eingetreten war. Vielleicht konnten die kleineren Veränderungen meines Körpers noch als Luftspiegelung abgetan werden. Je mehr Spaß ich hatte, desto weniger Kontrolle war für meinen Körper übrig. Liam hatte mir den Ball abgenommen und warf. In mir baute sich der innige Wunsch auf ihn zu schlagen. Mein ganzer Geist wurde von dem Willen zu Gewinnen eingenommen. Kein Platz für Konsequenzen, kein Platz für Selbstbeherrschung.

Meine Glieder begannen sich zu strecken. Ich wuchs rasant und mit einem Mal überragte ich sogar den Basketballkorb. Wie ein Riese pflückte ich den Ball aus der Luft, der zwischen meinen Händen wie eine Murmel wirkte und ließ ihn in das Netz fallen, ehe mir auffiel, was gerade geschah.

Ich taumelte, viel gegen den Zaun als ich gerade wieder schrumpfte und in mich zusammensackte. Vor lauter Furcht vor Liams Reaktion kauerte ich mich zusammen und versteckte das Gesicht in den Armen. Krampfhaft versuchte ich die Kontrolle zu behalten. Gleichzeitig spürte ich die Panikattacke die mich zu einer Statue verwandelte. Stein wanderte meine Knöchel hinauf. Steinerne Haut. Im Stillen betete ich, dass das alles nur ein Traum war. Das geschah nicht jetzt. Nicht vor Liam. Nicht vor dem frechen Grinsen mit den sanften Grübchen um die Mundwinkel. Nicht vor den Jadegrünen Augen. Nicht in der Schule. Nicht jetzt.

Schmerzhaft zogen sich meine Glieder wieder zusammen, meine Größe schrumpfte zurück zu meinem handlichen selbst. Die kleine, dürre Gestalt, die ich normalerweise besaß. Noch immer hielt ich die Augen zusammengepresst, so stark, dass ich Sterne sah. Mein Gesicht in den Armen vergraben, hatte ich mich zu einem kleinen Ball zusammen gekauert. Ich wollte Liam nicht sehen. Wollte nicht erneut das Wort Monster hören.

Es hatte doch solchen Spaß gemacht. Wir hatten uns verstanden. Alles würde wieder zerbrechen. Lange Zeit hörte ich nur die vereinzelten Vögel zwitschern. Ich glaubte, Liam sei verschwunden, weshalb ich vorsichtig den Kopf hob. Bestimmt war Liam einfach gegangen ohne, dass ich es bemerkt hatte. Er hatte die Polizei gerufen oder schlimmeres. Als ich den Kopf hob hockte Liam direkt vor mir. So nah, dass ich die Sommersprossen auf seiner Nase zählen konnte. Seine Knie reichten bis an sein Kinn und seine Finger streiften meine Schuhe.

„Hast du dich beruhigt?“, fragte der Rotschopf und ich zuckte erschrocken zusammen. Er nannte mich nicht Monster? Irritiert blickte ich ihn an. Er rastete nicht aus vor Angst. Liam war die Ruhe selbst und ich verstand nicht, wieso. Selbst meine Familie war ausgerastet, als sie mich das erste Mal so gesehen hatte.

„D…d…du…“

„Hier an der Schule heißt es, du wärst ein Freak. Aber du kamst mir nie wie ein Freak vor. Obwohl sie mir deine Videos gezeigt haben. Zugegeben ich bin gerade schrecklich erschrocken“, er lachte kurz verlegen, „Was ist das, was du da gemacht hast?“ Er plapperte darauf los, ließ sich auf seinen Hosenboden fallen und sah mich interessiert an. Seine Augen blitzten auf, als hätte er gerade ein seltenes Puzzleteil gefunden, dass in kein anderes Puzzle zu passen schien.

„Wenn du es jemandem erzählst, dann muss ich dich umbringen“, meinte ich so todernst wie nur möglich. Meine Hände zitterten und ich konnte nicht verhindern, dass mein Körper dieses Zittern aufnahm. Damit verriet ich mich selbst. Mein Körper verriet mich. Diesmal, was für eine schreckliche Angst ich hatte. Zur Antwort brach Liam in schallendes Gelächter aus, hob dann ebenso ernst die Hand zu einem Pfadfinderschwur: „Ich schwöre keinem etwas zu verraten. Abgesehen davon, dass mich jeder normale Mensch in die Klapse stecken würde für so eine Geschichte. Aber ich werde niemandem etwas sagen.“ Ich hob eine Augenbraue, dann stand ich auf, schnappte meine Tasche und lief davon: „Dir kann man nicht traue! Du bist einer von diesen scheiß Sportlern!“ Ich hatte es nicht erwartet, weshalb ich erschrak, als Liams Hand auf meiner Schulter landete und mich im Lauf herumdrehte: „Hey, Moment mal. Ich bin nicht wie diese Footballer. Wir mögen die auch nicht.“ Wir? Meinte er damit seine Teamkollegen? „Das glaub ich dir nicht. Du bist einer von den Beliebten. Du hasst Menschen wie mich. Das ist die Hierarchie hier“, hielt ich trotzig an meinen Glaubenssätzen fest und lief weiter. Ich schaute kurz über die Schulter, sah wie Liam geknickt und gleichzeitig fragend meinem Weggang entgegenblickte, dann trat ich um die Ecke des Schulgebäudes und er verschwand aus meinem Blick.

„Diese ganze Nachhilfeidee ist der größte Bullshit!“, knurrte ich, während ich mein Fahrrad schnappte und so schnell davon fuhr wie nur möglich. Den ganzen Weg zurück nach Hause erwartete ich, dass Sirenen ertönen würden oder jemand mich angreifen würde. Das FBI würde mich finden, die Polizei, ich würde in einem Versuchslabor enden. Und mir viel nichts Besseres ein, als zurück nach Hause zu fahren. Vom Regen in die Traufe oder wie man dazu sagt.

Montag

Bleistifte und Kugelschreiber kratzten über das dünne Papier der Arbeitsblätter und Schulhefte. Die Uhr tickte hässlich vor sich hin.

Tick Tack

Tick Tack

Es war 15:30 Uhr. Nachsitzen.

Tick Tack

Tick Tack

Ich spürte Liams Blick auf mir, aber ich drehte mich kein einziges Mal zu seinem Platz um. 

Tick Tack

Meine Augen wanderten über das Ziffernblatt der Wanduhr. Noch eine ganze Stunde würden wir hier sitzen. 

Tick Tack

Tick Tack

Tick Tack

Liams Training begann um 16 Uhr. Er würde zu spät kommen.

Tick Tack

Tick Tack

Mir egal. Es war alles egal. Vor allem Liam war egal.

Tick Tack

Dienstag

Linda Trentons Kaugummiblase platze zum zehnten Mal in den letzten drei Minuten. Sie schmatzte ekelhaft laut, während sie darauf herum kaute und ihre Beine immer wieder überschlug. Sie wirkte wie ein zappelnder Flamingo.

Tick Tack

Tick Tack

Es war 16:03 Uhr. Nachsitzen. Wie lange würden wir das noch durchziehen?

Tick Tack

Ich spürte Liams Blick auf mir, aber ich drehte mich kein einziges Mal zu seinem Platz um. 

Tick Tack

Meine Augen wanderten über das Ziffernblatt der Wanduhr. Noch eine ganze Stunde würden wir hier sitzen. 

Tick Tack

Tick Tack

Liams Training begann um 16 Uhr. Er würde nicht daran teilnehmen können.

Tick Tack

Tick Tack

Mir egal. Ich hatte keine andere Wahl.

Mittwoch

Die Kartoffelbatterie die ich für Physik gebaut hatte wirkte trauriger als noch am frühen Morgen. Ich schob das auf die Tatsache, dass Kyle in der Pause darauf gestanden war und alles Metall daran verbogen hatte. Ich war erstaunt, dass die Kartoffel nicht zerquetscht worden war. Eine sehr resistente Kartoffel.

Tick Tack

Tick Tack

Es war 15:00 Uhr. Nachsitzen. Lachhaft.

Tick Tack

Ich spürte Liams Blick auf mir und brauchte alle Willenskraft ihn nicht anzusehen. 

Tick Tack

Meine Augen wanderten über das Ziffernblatt der Wanduhr. Noch eine ganze Stunde würden wir hier sitzen. 

Tick Tack

Liams Training begann um 16 Uhr. Er würde heute vielleicht mal pünktlich sein.

Tick Tack

Tick Tack

Wieso machte ich mir darüber Gedanken? Es war doch völlig egal.

Donnerstag

Wir hatten nichts zu tun. Der Lehrer blickte uns kurz an. „Ich will die nächste Stunde keinen Ton von euch hören“, bellte er, setzte sich dann und begann in seiner Zeitung zu lesen.

Tick Tack

Tick Tack

Es war 15:30 Uhr. Nachsitzen. Schon wieder.

Tick Tack

Tick Tack

Ich spürte Liams Blick auf mir. Nur kurz huschten meine Augen zu ihm hinüber. Bevor wir wirklich Kontakt aufnehmen konnten starrte ich wieder auf die Tischplatte vor mir.

Tick Tack

Tick Tack

Tick Tack

Tick Tack

Liams Training begann um 16 Uhr. Er würde zu spät kommen. Das war meine Schuld.

Tick Tack

Tick Tack

Ich hatte keine andere Wahl. Und es tat mir nicht leid.

Tick Tack

Tick Tack

Freitag

Ich beobachtete, wie Leon aus meinem Geschichtskurz mit Spielkarten eine Pyramide zu bauen begann.

Tick Tack

Tick Tack

16:30 Uhr

Tick Tack

Tick Tack

Liam blickte stoisch aus dem Fenster als ich mich zu ihm drehte. Er wirkte müde. Die Schultern hingen schlaff herunter und seine Hand war zur Faust geballt. Er verpasste das Training.

Tick Tack

Meine Augen wanderten über das Ziffernblatt der Wanduhr. Noch eine ganze Stunde würden wir hier sitzen. 

Tick Tack

Tick Tack

Tick Tack

Meine Finger trommelten einen leisen, nervösen Rhythmus auf den Tisch.

Tick Tack

Tick Tack

Wenigstens musste ich nicht zu Hause sein.

Samstag

Wochenenden wurden überbewertet. War es nicht strafbar uns jetzt nachsitzen zu lassen?

Tick Tack

Tick Tack

Ich blickte kurz auf die Uhr. 9:30 Uhr. Fühlte sich schrecklich an.

Tick Tack

Tick Tack

Kurz huschten meine Augen zu Liam, der verbissen in seinen Büchern blätterte. Französisch. Ich schluckte. Mit einem Mal fühlte ich mich schlecht.

Tick Tack

Ich kritzelte in meinem Physikheft herum ohne darauf zu achten, was ich da tat.

Tick Tack

Tick Tack

Tick Tack

„In Ordnung. Genug für heute. Ihr könnt gehen“, sagte der Lehrer müde. Ich hob den Blick. Es war nach eins. Langsam raffte ich meine Sachen zusammen. Liam war schneller. Er stürmte aus dem Raum, als hätte ihn etwas gebissen. Ich blickte auf die ins Schloss fallende Tür und schloss meine Hand um den Lapislazuli um meinen Hals. Bald würde sich die Hölle wieder auftun. Nachsitzen war die einzige Möglichkeit ihr zu entgehen. „Tut mir leid, Liam“, murmelte ich zu mir selbst und verließ die Schule.

Kapitel 2: Bevor

„Na los Clemens!“, rief Bhajan voller Freude. In der rechten Hand hielt mein älterer Bruder eine altmodische Videokamera. Er hatte sich keine teure, moderne Kamera leisten können. Das wunderte mich nicht. Wir waren nicht die reichsten Menschen in Swadeswan Lake und sein Nebenjob warf nur genug Geld für die Dates ab, die er immer mal wieder hatte. Bhajans Augen leuchteten vor Vorfreude. Jadoo stimmte sofort mit ein: „Jetzt hab dich nicht so! Das wird tausende Klicks geben!“ Ich runzelte missbilligend die Stirn, als er mich im Nacken packte und mit brüderlicher Liebe zu den Bahngleisen schob, die hinter unserem Haus entlangführten.

Swadeswan Lake besaß keinen Bahnhof, aber eine Bahnstrecke auf der die Güterzüge täglich an der Stadt vorbei jagten. Es fuhren vier Güterzüge pro Tag und wir Geschwister hatten schnell gelernt, zu welcher Zeit die Züge für gewöhnlich vorbei kamen.

Ich wollte gerade kein weiteres Video für den YouTube Kanal meiner Brüder drehen, in dem ich der Mittelpunkt sein würde. Sie klopften aufmunternde Sprüche und mir auf die Schulter, als wäre das genug um meinen Ärger zu vertreiben. Auf den Gleisen hatten sie eine Stadt oder sowas aus Pappkartons aufgestellt. Ihre kleinen Drehtage hingen mir schrecklich zum Hals heraus. Wir spielten oft in der Nähe der Bahngleise, obwohl wir immer wieder Schelte von Mutter bekamen. Es war schon lange nichts Besonderes mehr. Dennoch ging es mir auf die Nerven.

„Ich habe noch Hausaufgaben“, entgegnete ich endlich. Wütend, weil mir keiner der Beiden richtig zuhören wollte. Gegen meine Geschwister kam ich nicht an. Ich war ein Hänfling; ohne Muskeln, ohne wirkliche Argumente, die mich von dieser mittlerweile lästigen Pflicht befreien würden.

Früher fand ich es toll, als diese ganze Sache anfing. Meine Brüder waren alle älter geworden, hatten sich auf die Highschool begeben und waren in eine andere Welt übergewechselt, in die ich ihnen nicht hatte folgen können. Ohne mich. Der kleine Bruder war nervig geworden. Als ich durch meine Superkraft wieder interessant wurde, da hatte ich die Aufmerksamkeit genossen.

Amar, der älteste von uns, war in seinem ersten Collegejahr, Bhajan machte gerade seinen Abschluss, Devi und Jadoo waren in der Highschool. Wir kleinen, Nadiri meine Zwillingsschwester, Silla meine kleine Schwester und Ravi, der Jüngste von uns, waren noch zurück geblieben auf unserem Lebensweg. Jetzt war ich wieder der Mittelpunkt. Nur durch mein besonderes Talent hatten meine Brüder wieder Spaß mit mir bekommen. So viel Spaß, wie schon lange nicht mehr und ich hatte ihn ebenfalls. Spaß daran, endlich wieder dazu zu gehören.

Der Blick meiner grünbraunen Augen wanderte über die aufgestellte Pappstadt, die Gleise auf denen wir nicht sein durften, das verdorrte Gras der Landschaft. Dann bemerkte ich den schweren Hammer, den Jadoo mit einem erfreuten Grinsen in Händen hielt. Natürlich hatte er wieder den größten Spaß daran. Die Beiden hatten sich das wohl wie in einem schrägen Hollywoodstreifen Vorgestellt. Sie hatten sich diesmal sogar ein richtiges Skript ausgedacht, das neben Bhajan auf dem Boden lag. Ich sollte auf die Schienen und es so aussehen lassen, als würde ein fürchterliches Monster die Erde angreifen. Damit ich wie ein Monster aussehen würde, mussten sie meine Superkraft aktivieren. Die Kraft, mich an jede Umweltumstände anpassen zu können.

Ich seufzte. „Ich habe keine Lust darauf“, maulte ich meine Brüder an, als ich plötzlich sah, wie unsere kleine Schwester Silla auf uns zu lief. Sie war erst fünf Jahre, ihre Locken tanzten fröhlich um ihr Gesicht, als sie den kleinen Hügel von unserem Haus zu den Gleisen herunter hüpfte. Eine Puppe presste sie gegen ihre Brust, als sie bei uns älteren stehen blieb. „Spielt ihr was?“, fragte sie neugierig und ich konnte ihre kleine Zahnlücke zwischen ihren Schneidezähnen sehen. Wahrscheinlich würde sie später eine Zahnspange brauchen.

„Ja Silla“, sagte Bhajan freundlich zu ihr und beugte sich hinunter, damit er ihr in die großen Augen sehen konnte, „Aber das ist kein Spiel für kleine Mädchen.“ „Geh weg, du nervst Silla“, meinte Jadoo im Gegenzug grob. Ich konnte es nicht leiden, wenn er so mit unserer Schwester sprach. Wütend blitzte ich ihn an und trat meinem älteren Bruder entgegen, während sich auf Sillas Miene trotzige Tränen ausbreiteten. „Mama hat gesagt wir sollen auf sie aufpassen, also fahr sie nicht so an!“ Ich ging vor unserer kleinen Schwester in die Hocke und strich ihr über den Kopf: „Pass auf, ich spiele kurz mit den Beiden und du bleibst in unserer Nähe und wenn wir fertig sind, dann spiel ich mit dir Teestunde.“

Zufrieden beobachtete ich, wie Sillas Augen aufleuchteten und sie die rothaarige, heruntergekommene Puppe fester an sich presste. Ich erinnerte mich, dass Nadiri früher damit gespielt hatte und mich gezwungen hatte mit ihr Teestunde zu spielen. Ich hasste Teestunde spielen, das wusste Silla und darum machte ich ihr mit meinem Angebot eine doppelte Freude. Anders als Jadoo oder Bhajan schickte ich sie nicht weg. Ich wusste noch genau, wie es sich anfühlte, wenn die älteren Geschwister nicht mit einem spielen wollten. Das Gefühl wollte ich Silla ersparen.

Die Tränen versiegten genauso schnell, wie sie aufgetreten waren und ein breites, überglückliches Grinsen breitete sich auf dem rundlichen Kindergesicht vor mir aus. Ich unterdrückte einen Seufzer und schenkte ihr ein Grinsen zurück. Meine Hausaufgaben würde ich für den Tag total vergessen können.

„Das heißt du machst mit! Los jetzt“, rief Jadoo, der sich darin bestätigt fühlte endlich meinen Willen gerbrochen zu haben. Er zog mich an die Gleise, während Bhajan die Kamera auf uns gerichtet hatte und das ganze Geschehen filmte. Ich wollte gerade noch protestieren, als Jadoo mit dem Hammer ausholte und mich der erste Schlag in den Magen traf. Es tat schrecklich weh. Beim zweiten konnte ich einen Aufschrei nicht unterdrücken, bevor meine Superkraft endlich Griff und mein Körper sich veränderte.

Unter meinen Kleidern verdichtete sich meine Haut, wurde ledrig und schließlich bildete sich Horn darauf. Schneller, als ich es gewohnt war kletterten die blauen Hornplatten meine Arme und Beine entlang und meinen Hals hinauf. Es schnürte mir einen Moment die Luft ab, dann überlagerten sich die Platten mit denen in meinem Gesicht, während Jadoo weiter auf mich einschlug.

„Hört auf damit!“, schrie Silla mit vor Angst geweiteten Augen und drückte ihre Puppe so feste, dass ich Angst hatte sie würde ihr aus Furcht noch den Kopf abreißen. „Ihr tut ihm weh!“ „Schon gut Silla“, presste ich zwischen den Zähnen hervor. Es klang nur dumpf, waren meine Lippen nur noch von Horn und Schuppen übersäte Wülste: „Das macht mir nichts!“ Wieder traten Tränen in die dunkelbraunen Augen meiner Schwester und es zerriss mir das Herz sie so zu sehen. Verzweifelt trat sie mit dem Fuß auf und lief dann die Gleise entlang. Offensichtlich war sie wütend und verletzt und ich wollte sie eigentlich in den Arm nehmen und ihr Versprechen, dass alles gut war. Sie blieb gerade so weit entfernt, dass sie in Ruf- und Hörweite war und wir sie noch sehen konnten. Eine kleine kauernde Gestalt im Gleisbett. Am liebsten wollte ich sofort zu ihr, sie trösten und in den Arm nehmen, wie es ein großer Bruder machen sollte. Jadoo hielt mich auf. „Lass sie, du kannst sie nachher genug knuddeln“, sagte er scherzhaft und schubste mich zurück auf die Gleise. Ich wusste, dass diese Outtakes am Ende genauso auf YouTube landen würden wie der fertige Film. So wie alles, was meine Gabe hergab. Darwin, das Wunderkind. Sie hatten einfach den Namen des Superhelden für mich geklaut. Ich hasste ihn so sehr.

Halbherzig machte ich irgendwelche Geräusche an die ich mich von Dokumentationen über Dinosaurier oder aus Godzilla erinnerte und hoffte, dass meine Brüder bald die Lust verlieren würden. Immer wieder schielte ich zu Silla, die auf den Schienen saß und mit ihrer Puppe spielte. Wieder einmal waren die Tränen verschwunden. Ich wusste, dass sie mir gerade sehr böse war. Für die nächste halbe Stunde zumindest.

Da ich mich nicht gut genug auf meine Aufgabe des zerstörerischen Monsters konzentrierte, verschwanden die Hornplatten nach und nach recht schnell wieder. Meine Gedanken waren viel zu sehr bei meiner kleinen Schwester und ich erkannte in Bhajans Blick, dass er sich Sorgen machte.

Jadoo ging viel zu grob mit Silla um. Als die letzten Platten verschwunden waren und ich wieder aussah wie vorher, schaltete mein großer Bruder die Kamera aus. „Hey was soll das? Machen wir nicht weiter?“, fragte Jadoo übermütig und tänzelte von einem Bein auf das andere. Er wurde von Bhajan sofort in die Schranken gewiesen: „Nein. Du hast Silla ganz schön mies behandelt.“ Der fauchende Ton meines Bruders ließ Jadoo kurz zusammenzucken, dann trat er zum Gegenangriff an. Während ich mich von den Beiden entfernte hörte ich sie bald lautstark streiten. Das war nichts Besonderes mehr unter uns Geschwistern.

Ich ging neben Silla in die Knie und heftete meinen Blick auf sie, während sie konzentriert auf ihre Puppe sah. „Hey Silla“, ich stupste sie an. Sie ignorierte mich. „Hey Prinzessin…ignorier mich nicht, bitte. Jadoo war nicht nett, das war blöd von ihm. Wir können jetzt spielen gehen.“ Nur widerwillig hob sie den Blick und als ich sie anstrahlte konnte sie mir nicht länger böse sein. „Du bist Prinz Lapzuli!“, rief sie aus und drückte mir einen Stein an einem Lederband in die Hand. Verwirrt runzelte ich die Stirn, während ich das blaugrüne Ding ansah. „Den hab‘ ich gefunden“, erklärte Silla stolz und legte mir die Kette um den Hals. Nur langsam dämmerte mir, dass sie Lapislazuli sagen wollte, es aber nicht hinbekommen hatte. „Gefällt er dir nicht?“, fragte sie plötzlich verunsichert, weil ich nichts zu dem offensichtlichen Geschenkt sagte. Ich wandte den Blick wieder ihr zu und legte eine Hand um den Stein, der auf meiner Brust liegen blieb, weil das Lederband zu lang war: „Er ist wunderschön.“

Silla grinste und jubelte leise. Es war, als würde die Sonne hinter einem Kaktus wieder auftauchen, wenn sie sich freute.

Ich schmunzelte und reichte ihr die Hand: „Prinzessin Schokoladenkuchen, darf ich bitten?“ Zwischen ihren rosigen Lippen quoll ein Kichern hervor, wie das sprudeln eines kleinen Baches und sie protestierte gegen den Namen, nahm meine Hand an: „Prinz Lapzuli, Sie sind unverschämt!“

„Verzeiht, meine Liebe“, der gestelzte Ton blieb nicht lange bestehen, schon brach meine Schwester in Lachen aus und steckte mich damit an. Wir verließen die Gleise, beide kichernd, und als wir an unseren Brüdern vorbei kamen die gerade damit beschäftigt waren die Kartons aufzuräumen stellte Silla Jadoo ein Bein. Es war ihr Übermut, der sie zu diesem kleinen Streich auflegte und normalerweise hätte Jadoo sicher gelacht. Durch den Streit mit Bhajan war er heute nicht mehr zu Scherzen aufgelegt.

Er taumelte, wusste sofort, dass sie es gewesen war und fuhr wütend herum. „Du kleine Kröte!“, schrie er sie an, „Na warte!“ Silla quietschte kurz, dann hechtete sie los und ich stellte mich Jadoo in den Weg: „Lass sie in Ruhe. Du hast für heute genug Schaden angerichtet!“

„Ach ja? Wer soll mich aufhalten?! Du?“, fauchte er streitlustig und stieß mich vor die Brust. Es war nur ein kurzes Wortgefecht zwischen uns, dann begannen wir zu rangeln. Bhajan damit beschäftigt uns wieder auseinander zu bringen, sodass er keine Möglichkeit hatte sich auf Silla zu konzentrieren. Wir hatten nicht bemerkt wie viel Zeit vergangen war, nichts gehört, nichts gesehen, so sehr waren wir mit unserem Streit beschäftigt. Erst als ein lauter, durchdringender Ton die Luft zerschnitt wie ein Donnerschlag die Stille, zuckten wir zusammen und stoben auseinander.

Ein Zug.

Es war die Hupe eines Zugs und das Ungetüm war nicht so weit entfernt. Im nächsten Augenblick brüllte Silla meinen Namen: „Clemens!“ Ihre Stimme überschlug sich vor Panik und ich stürmte mit meinen Brüdern sofort zu ihr. Sie war kaum zu erkennen, wie sie da halb auf den Gleisen und halb im Gleisbett saß. Die flirrende Luft der Hitze machte sie unsichtbar. „Ich wollte Prinzessin Rosalie holen, aber ich komme nicht mehr weg!“

„Sie hat sich das Bein eingeklemmt. Los wir müssen sie befreien!“

Die Hupe ertönt. Laut, Schrill, Nah.

„Los! Los beeilt euch!“, schrie Bhajan mit derselben Panik die uns alle überrollte. Silla weinte. Immer wieder jammerte sie meinen Namen.

Die Hupe ertönt. Laut, Schrill, Nah.

„Ich hole Hilfe!“, schrie Jadoo über das Chaos und sprintete in Richtung unseres Hauses.

„Clemens sie hängt noch immer fest! Tu doch was! Deine Superkraft!“

Die Hupe ertönt. Laut, Schrill, Nah.

Ich schubste Bhajan weg, sprang selbst auf die Gleise. Wie ein Wilder zerrte ich an der Schnalle von Sillas kleinem Schuh. Versuchte mit der gesamten Kraft meine Muskeln zu verändern um ihren Fuß zu befreien. Ich hatte eine Superkraft, wieso funktionierte sie nicht? „Sissi hilf mir“, schluchzte meine kleine Schwester. Ihre Hände krallten sich panisch in meine Kleider. Ich zog, zerrte, schlug verzweifelt auf das Holz ein.

Die Hupe ertönt. Laut, Schrill, Nah.

„CIECIE! Ich habe Angst!“

Die Hupe ertönt. Laut, Schrill, Nah.

„Hilf mir! Du kannst doch Zaubern! Du bist ein Held… bring mich hier weg! Ich will weg!“

Die Hupe ertönt. Laut, Schrill, Nah.

Die Hupe ertönt. Laut, Schrill, Nah.

Die Hupe ertönt. Laut, Schrill, Nah.

Die Stille tat weh. Die Geräusche, als der Zug über mich hinweggedonnert war, brannten sich in mein Gehirn. Da war dieser kleine Moment gewesen. Dieser winzige Augenblick zwischen dem Rattern der Räder, dem kreischen der Hupe und den Stimmen meiner Geschwister. Ein Geräusch, dass mir den Magen umdrehte.

Ein durchdringendes Quietschen ertönte, als die Räder zum Stillstand gezwungen werden sollten. Zu spät. Viel zu spät. Das Rad des Güterzugs, an dem ich vorbei krabbelte, erschien mir wie ein Berg. Ich war geschrumpft. Auf die Größe einer Maus geschrumpft. Und meine Hände waren klebrig. Ich zog mich an den Schienen hinauf, ließ mich neben den Zug fallen und spürte nicht einmal den Schmerz, den mein Körper herauf und herunter jagte als ich wieder zu meiner normalen Größe heranwuchs.

Neben den Gleisen lag Prinzessin Rosalie. Ihre roten Haare wehten leicht im Wind. Ihr Körper war halb zerfetzt. Füllung flatterte durch die Luft, segelte wie bizarrer Schnee auf die Erde hernieder. Meine Augen starrten auf das Schreckensbild vor mir. Ich konnte nicht wegsehen. Ich konnte nicht atmen. Ich konnte es nur riechen und sehen. Auf meinen Händen. Spürte Tropfen in meinem Gesicht. Das Bild würde sich auf ewig in mein Gehirn brennen. Meine Hände zitterten. Ich hörte Schreie aus dem Haus. Ein so durchdringender Schmerzenslaut, als würden wir gerade ein Schaf im Garten schlachten und hätten es nicht mit dem ersten Axthieb erledigen können. Ich wusste, dass ich nicht weinen konnte. Ich konnte nur zittern. Zittern und starren.

„S…s…Silla“, hauchte ich und schmeckte kurz darauf das Eisen von Blut auf meiner Zunge. Mechanisch drehte ich den Kopf, als meine Mutter neben mir zusammenbrach. Ich konnte ihre Schreie hören, dumpf und ich wusste, dass sie alles übertönen würden, würde ich nur richtig hören können.

„MONSTER! DU MONSTR HAST DEINE SCHWESTER GETÖTET!“

Die Welt war an diesem Tag dunkler geworden. Grauer. Farbloser. Wie ein zu altes Foto auf dem die Farben bereits verblasst waren. Es gab nur noch eine Ahnung von dem, was gewesen war. Später konnte ich mich nicht mehr an alles erinnern. Ich konnte nicht mehr sprechen. Alles fühlte sich an, als wäre ich unter Wasser. Ich ertrank bei lebendigem Leibe.

Plötzlich waren da Menschen.

Blinkende Lichter.

Blau. Rot. Weiß.

Schwarze Planen.

Rote Wagen.

Uniformen.

Schreie und Tränen.

Der Geruch von Desinfektionsmittel.

Kameras.

Mikrofone.

Ich hörte das Wort Unfall.

Tragisch.

Der Tag war zu Ende. Und das Leben, wie wir es alle kannten auch.

Alles verfing sich in dieser Schwärze, die meine Familie plötzlich umgab. Meine Mutter sprach nicht mehr mit mir. Sie blieb in ihrem Zimmer und kam nicht mehr heraus, obwohl ich am Frühstückstisch den Geruch ihres Lieblingskaffees in der Nase hatte. Ich hatte das dringende Bedürfnis für sie da zu sein. Sie zu trösten. Irgendetwas zu tun, anstatt nur stumm zwischen meinen Geschwistern in der Küche zu sitzen. Amar war plötzlich da, kochte Pfannkuchen für uns und sorgte für etwas Leben. Keiner meiner Geschwister wusste, wie wir mit diesem Ereignis umgehen sollten. Bhajan und Jadoo stocherten in ihrem Essen herum, sprachen ab und an. Meine Geschwister tauschten sich über alltägliches aus und fragten unseren ältesten Bruder, wie das College war. Nur ich starrte auf die zwei leeren Stühle am Küchentisch. Der von Silla. Der von meiner Mutter. Schließlich nahm ich ein Tablett und legte Essen und Tee und Kaffee darauf. Ohne ein Wort zu sagen schlich ich zum Schlafzimmer meiner Eltern und klopfte ehe ich die Tür mit dem Ellenbogen öffnete. Die Vorhänge waren zugezogen. Das Dämmerlicht im Zimmer wirkte so bedrohlich wie die Welt in der ich mich befand und von der ich die Regeln nicht mehr verstand. Ich suchte nach meiner Stimme, fand sie nicht. Darum stellte ich das Tablett auf dem Nachttisch meiner Mutter ab und berührte sanft ihre Schulter. Sie rührte sich nicht. Ich versuchte es noch ein paar Mal bis sie die verquollenen Augen öffnete. Zuerst sah sie das Tablett. Ein müdes Lächeln trat auf ihre Lippen und sie setzte sich auf. Sie war noch benommen vom Schlaf. Dieser eine Moment in dem einem das Gehirn vorspielte, dass die Welt in Ordnung war. Dann kamen die Erinnerungen zurück. Ich konnte es in den Augen meiner Mutter sehen, die mich endlich anblickte.

Ich deutete leicht zitternd auf das Tablett. Ich konnte noch immer nichts sagen. In den Augen meiner Mutter stand der blanke Hass. „Du Monster“, grollte sie mir entgegen und machte mir damit mehr Angst als alles andere was gerade vor sich ging. Ihre Bewegungen glichen der einer Hexe aus einem Horrorfilm als sie sich zu mir lehnte. Ihre Hand krallte sich in den Kragen meines Shirts und sie zog mich mit einem Ruck zu sich. „Du hast mein Kind getötet, Rahu!“, zischte sie so nah an meinem Gesicht, dass ich ihren Atem auf meinen Wangen fühlen konnte. Rahu, Dämon. Sie hielt mich für einen Dämon. Vorsichtig schüttelte ich den Kopf, unfähig mich zu bewegen. Ich hatte meine Mutter noch nie so gesehen und es machte mir noch größere Angst als der Moment auf den Gleisen. „Du bist nicht mein Kind, Dämon!“, kreischte sie auf und ihre Hände schlossen sich um meinen Hals. Immer wieder kreischte sie: „Wo ist mein Sohn?! Wieso habe ich einen Dämon geboren?! Wieso hast du mein Kind getötet?!“ Ich spürte ihre dünnen Finger an meiner Kehle, unfähig mich zu bewegen, spürte wie mir die Luft ausging. Ich war ein Dämon.

Vater organisierte alles.

Den Bestatter.

Den Pfarrer.

Das Grab.

Der Geruch von Holz für einen Sarg.

Wieso stand ich vor einem Sarg? Ich hob den Blick, bemerkte den Spiegel des Bestattungsinstituts. Dann erinnerte ich mich. Vater hatte mich mitgenommen, als er Mutter erwischt hatte, wie sie versucht hatte mich zu erwürgen. Es war so still hier. Der Teppich war rot. Wieso war er rot?

„Clemens“, die sanfte Stimme meines Vaters ließ mich zusammenzucken. Ich richtete meinen Blick auf ihn, verwirrt darüber, wieso er mich nicht hasste. „Was denkst du? Ist das ein gutes Holz?“, wollte er von mir wissen. Er deutete mit einem liebevollen Lächeln auf den Sarg vor mir. Ich nickte stumm.

Geflüsterte Worte.

Stille.

Ich fand mich im Auto wieder.

Vater startete den Motor.

Schweigen.

„Deine Mutter liebt dich Clemens“, Worte so süß wie Honig der in warme Milch tropft, „Anjali wird sich bald daran erinnern.“ Ich nickte stumm. Ich hatte sie gehört. All die Worte, die sie hinter verschlossenen Türen gefaucht hatte. „Es tut mir leid“; krächzte ich kraftlos. Als wir zu Hause ankamen küsste mich mein Vater aufs Haar. Wir gingen ins Haus und ich versteckte mich in meinem Schrank. Nicht einmal meine Zwillingsschwester konnte mich aus meinem Schneckenhaus holen. Ich verschwand einfach. Irgendwo hin, wo es schön warm und geborgen war. Irgendwo hin, wo Sillas Lachen mein Herz erwärmte. Irgendwo hin, wo das Gras duftete und die Sonne mich wärmte.

Sonne wärmte meine Haut. Es brannte und ich musste die Augen zusammenkneifen um das viel zu helle Grün des Friedhofgras zu ertragen. Da waren so viele Menschen um mich herum. Freunde und Familie. Sie bildeten eine schwarze Masse, wie ein fauliges Geschwür in einem lebenden Organismus und hoben sich hässlich schön von dem Grün des Rasens und dem Grau der Grabsteine und dem Braun der Bäume auf dem Friedhof ab. Ich hörte wie sich jemand schnäuzte. Hörte wie jemand in der Nähe von einem Bein auf das andere trat. Ich hörte Schluchzer und das dumpfe Geräusch von Erde das auf Holz traf. Der Pfarrer sagte irgendetwas, aber ich konnte ihn nicht hören. Ich nahm alle Geräusche um mich herum war, die keine Worte waren. Und Nadiris Hand, die meine feste drückte. Wir hielten uns aneinander fest. Ihre Gegenwart beruhigte mich und ich bemerkte, dass ich viel zu schnell geatmet hatte. Mir wurde schwindelig. „Du bist kein Dämon“, hörte ich ihre Stimme neben mir. Geflüstert wie ein sanfter Wind an einem Frühlingsmorgen. „Du bist mein Lieblingsmensch, CieCie und ich werde dich für immer Beschützen. Auch vor Mama, wenn es sein muss.“ Erst als sie mir über die Wange strich bemerkte ich, dass ich weinte. Das erste Mal weinte. „Ich liebe dich, kleiner Bruder“, sagte sie sanft und streckte sich um mich auf die Stirn zu küssen. Nadiris Arme legten sich um mich und ich brach in dieser kleinen sicheren Geste zusammen.

Ich erinnerte mich nicht daran, wie ich zurück zu unserem Haus gekommen war. An dem Tag erinnerte ich mich an kaum etwas außer diese ständigen geflüsterten Gespräche und Gebete. Alles was ich tat war mit Nadiri zu verschmelzen. Ich folgte ihr wie ein Schlafwandler, während sie mit unseren Onkeln und Tanten sprach. Ich erkannte die französisch-indische Verwandtschaft und für einen kurzen Moment fragte ich mich, ob sie wirklich von Frankreich hier hergeflogen waren. Die Antwort darauf wollte ich nicht wissen. Nadiri zog mich zum Buffet und wir füllten zusammen einen Teller für uns beide. Dabei konnten wir ein Gespräch zwischen unserem Onkel und unserem Vater nicht überhören.

„Anjali hat das wirklich getan, Rash?“, fragte Onkel Jivar gerade unseren Vater. Ich hielt meinen Kopf gesenkt, konzentriert auf die Auswahl an Essen. Mama war nirgends zu sehen. Ich hatte Amar kurz beobachtet, wie er sie ins Schlafzimmer begleitet hatte. Seitdem war sie nicht noch einmal aufgetaucht.

„Ja…der arme Junge. Die armen drei. Die Trauer, Jivar…es muss die Trauer sein. Der Schock. Sie wird sich daran erinnern, dass Clemens kein böses Kind ist“, antwortete mein Vater in sanftem Ton. Er versuchte gedämpft zu sprechen. Leise genug, sodass niemand sonst es mitbekam. „Der Kleine hat versucht seinen Segen einzusetzen…aber die Götter haben anders entschieden.“

„Rash ich habe noch nie von dieser Fähigkeit gesehen, von der ihr immer erzählt. Bist du dir sicher, dass du den Jungen nicht vielleicht…zu einem richtigen Arzt bringen solltest? Für…für länger?“

Ich versteifte mich neben Nadiri. Wir sahen uns an und ihre Augen spiegelten die gleiche Angst die sich in meiner Magengrube breit machte.

„Nein Jivar…vergessen wir das“, widersprach unser Vater sofort. Erleichtert atmeten wir beide aus. Wir wussten wir sollten gehen und nicht lauschen. Aber unsere Füße bewegten sich nicht. „Aber du hast recht, ich werde die Kinder zu einem Psychologen schicken müssen. Und Anjali“, fügte unser Vater hinzu. Nadiri zog an meiner Hand und ich stolperte mit ihr davon. Sie suchte einen Platz für uns, fütterte mich abwechselnd während sie aß. Sie hielt meine Hand, ließ mich nicht los, egal wie kompliziert es sein mochte sich zwischen unserer Familie und den Freunden zu bewegen. Wir waren eine Person: Nadiri und ich. Und von da an würden wir es immer sein, wenn wir das Haus betraten.

„Clemens Dubois? Kommst du bitte mal in mein Büro?“, ich zuckte zusammen als ich meinen Namen hörte. Ich war gerade auf dem Weg zu meiner Chemiestunde und war das erste Mal seit einer Woche wieder in der Schule. Es fühlte sich alles so taub an. In mir und an mir. Ich sah andere Kinder lachen, sah meine Brüder ab und zu über die Köpfe anderer in der Cafeteria hinweg. Ich wusste, dass hinter meinem Rücken getuschelt wurde. Dass sie sich fragten, ob sie mit mir sprechen durften. Manche sprachen ihr Beileid aus. Seit den frühen Morgenstunden kamen verschreckte Mitschüler auf mich zu und schüttelten mir die Hand. Schüler, von denen ich nicht den Namen wusste. Eine Begebenheit, von der ich nicht wirklich wusste, wie ich damit umgehen sollte.

Ich wandte den Kopf zu der Aufschrift an der offenen Tür: Auberny, Schulpsychologin. Natürlich. Vorsichtig, wie ein verschreckter Welpe, betrat ich das Büro und schloss lautlos die Tür hinter mir. Ich schaffte es nicht den Kopf zu heben. Mein Blick klebte an meinen Schuhen.

„Bitte setz dich doch, Clemens“, vernahm ich die ruhige Stimme der Psychologin und musste kurz zu ihr sehen um zu wissen, wohin sie zeigte. Erst da viel mir die Einrichtung auf. Es war nicht wie in anderen Büros, wo es einen Schreibtisch und einen Stuhl gab. Es standen zwei Sofas in diesem Raum die zu einer Seite eines kleinen Tisches platziert worden waren. Bunte Blumenbezüge, helle Farben. Ich runzelte kurz die Stirn, legte meine Tasche ab und setzte mich auf eines der beiden. Das Polster kam mir zu weich vor. Ich versank darin. Darüber machte ich mir nicht so viele Gedanken. Viel mehr heftete ich den Blick auf die Stein- und Holzfiguren auf dem Tisch vor mir.

„Es tut mir sehr leid, Clemens, was mit deiner Schwester geschehen ist. Das ist keine leichte Zeit für dich und deine Familie“, sprach Miss Auberny wieder, weil ich nichts sagte. Ich sagte nichts mehr. Seit diesem Tag, an dem ich mich im Schrank versteckt hatte sprach ich nicht mehr. Als hätte mein Kopf vergessen wie das ging. Es fühlte sich an, als wären alle Verbindungen in meinem Körper zerschnitten worden und ich wusste nicht mehr, wie man sie wieder zusammenbrachte. Ich zuckte mit den Schultern. Eine Weile herrschte Stille zwischen uns. Es war unangenehm hier im Stillen zu sitzen. Ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte. Ich wusste wie es war zu schweigen, wie es sich in meiner Familie anfühlte und dass es mir das Leben zu Hause erleichterte. Unsichtbar sein und keinen Laut von mir zu geben.

„Clemens ich weiß, dass es sehr schwer sein kann über solche schrecklichen Ereignisse zu sprechen. Ich möchte dich zu nichts drängen. Du wirst darüber sprechen, wenn du bereit bist. Ich möchte dir versichern, dass alles was du gerade fühlst völlig in Ordnung ist.“

Normal? Ich sollte normal sein? Ich musste mir ein verbittertes Lachen verkneifen. Miss Auberny bemerkte das. Sie war keine dumme Frau. Ich hatte gehört, dass sie ihren Job sogar sehr gut machte. Für mich reichte das nicht aus. Es wäre ein Wunder, wenn sie meine Reaktion nicht bemerkt hätte. Sie wartete. Wir warteten. Warteten darauf, dass ich vielleicht etwas sagen würde. Ich spürte die Worte in meinem Körper. Wie sie wild herum wirbelten in einem nie endenden Sturm. Wenn ich angefangen hätte den Mund zu öffnen, dann hätte ich geschrien. Hätte ich geschrien, dann hätte ich nie wieder damit aufgehört, bis meine Lungen bluteten. Wieder saßen wir zusammen in dieser erdrückenden, unnatürlichen Stille. Miss Auberny verlagerte ihr Gewicht. Das Polster unter ihr gab ein leises Geräusch von sich. Ihre Finger schlossen sich locker um das Knie ihres übergeschlagenen Beines. Ihre Fingernägel sauber lackiert mit einem viel zu grellen gelb.

Ich hatte nicht bemerkt wie ich den Blick gehoben hatte. Hatte nicht bemerkt, wie meine Neugier auf diese schweigende Erwachsene anwuchs. Mein Blick zu ihrem Businessdress. Sie trug eine goldene Kette mit einem kleinen funkelnden Stein. Als meine Augen den sahen legte ich automatisch eine Hand an den Lapislazuli, der an dem viel zu langen Lederband um meinen eigenen Hals baumelte. Ich schluckte schwer. Und dann hörte ich mich plötzlich sprechen: „Silla hat mir den geschenkt.“

Meine Stimme klang fremd, kratzend, unnatürlich. Ich war unnatürlich. Und vielleicht passte diese Situation deshalb so gut. Unnatürliche Stille, unnatürlicher Junge, unnatürliche Stimme. Vielleicht fühlte ich mich deshalb sicherer hier zu sitzen. Meine Augen huschten kurz zu Miss Aubernys Gesicht. Ihren kurzen roten Haaren und den Augen, die so viel Zuversicht ausstrahlten und so viel Verständnis, dass ich aufspringen und davonrennen wollte. Meine Hände zitterten leicht. „Sie…konnte den Namen nicht…“, ich brach ab, senkte den Blick wieder, wischte hastig die Tränen aus meinen Augen. Automatisch zog ich die Ärmel meines Pullovers über meine Hände. Miss Auberny wartete. Hoffte sie vielleicht, dass ich noch etwas sagen würde? Wieder verlagerte sie ihr Gewicht. Es machte mich nervös.

„Clemens, die Stimmung bei dir zu Hause ist sicher sehr erdrückend. Ich möchte, dass du weißt, dass du bei mir immer eine Anlaufstelle haben wirst“, ich hörte das Lächeln in ihrer Stimme. Da war Hoffnung. Der Wunsch mich zu trösten und mir zu helfen. Ich nickte leicht. „Ich möchte gerne, dass du einmal in der Woche zu mir kommst“, sprach sie weiter, „Ich habe das mit deinem Vater abgeklärt.“ In mein Blickfeld schob sich ein Blatt Papier. Mein Name stand in der Ecke. Mein Stundenplan. Meine Kurse in der Schule. Nur, dass jetzt ein Kästchen hinzugekommen war.

Miss Auberny – Gespräch.

„Wir müssen nicht sprechen. Ich möchte dich nur einmal in der Woche sehen. Fragen wie es dir geht. Sehen, wie ich dich am besten unterstützen kann.“

„Kommen meine Geschwister auch zu Ihnen?“, wieder diese unnatürliche Stimme. Mir fiel auf, dass sie keine Emotionen hatte. War es das, was passierte, wenn alle Verbindungen zerstört waren? Wenn das Innen in tausenden, Millionen Scherben lag? Ich nahm vorsichtig den Stundenplan an mich, als könnte er sich in Luft auflösen, wenn ich das Papier zu feste drückte.

„Ja. Ich bin nicht nur Schulpsychologin Clemens“, sagte sie und erst da fiel mir auf, dass die Adresse einer Praxis auf dem Papier stand. Unsere Kleinstadt hatte nicht mehr als einen Psychologen. Natürlich nicht. Wer würde freiwillig hierherziehen und versuchen in diesem Loch zu arbeiten? Daher war unsere Schulpsychologin gleichzeitig die einzige Psychologin in der Stadt. Die einzige Psychologin die die gesamte Familie Dubois betreuen würde. Wieder musste ich mir ein verbittertes Lachen verkneifen.

„Alles, was du mir erzählst unterliegt der Schweigepflicht. Du kannst dich hier sicher fühlen. Versuchen wir es und wenn du sagst, dass es dir nichts bringt, dann können wir aufhören oder ich überweise dich an jemand anderen“, sprach sie weiter. Ich fragte mich, wie ein Mensch so viele Worte haben konnte. Mir wurde schon von den wenigen Sätzen schlecht, die ich hier gesagt hatte. Wieder nickte ich. Wieder trat Stille ein. Wie lange würde sie diesmal anhalten? Ich zählte ein paar Sekunden, dann hörte ich wie Miss Auberny aufstand: „Danke, dass du gekommen bist, Clemens. Wir sehen uns nächste Woche.“ Ich hob den Blick. Sie lächelte mich an. Mein Mundwinkel zuckte im Bemühen zurück zu lächeln. Doch ich brachte nichts zustande. Ich war tot. Das Einzige, was ich tat war zu existieren. Physisch zu existieren. Alles andere war sinnlos. Miss Auberny reichte mir die Hand, ich ignorierte sie. Stattdessen nahm ich meine Tasche und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum.

Kapitel 1: Monster in Disguise

Ich bin ein Superheld.

Zumindest glaubte ich das zu sein. Für genau 7 Jahre. Man sagt ja, dass 7 eine magische Zahl wäre. Vor allem für Hexen soll sie etwas Besonderes sein. Vielleicht ist das der Grund, weshalb ich mir sicher war, dass ich verflucht worden war. Das war die einzige Erklärung die ich finden konnte. Die einzige Erklärung, die nach langem hin und her Sinn ergeben hatte. Nur, dass ich nicht das siebte Kind in der Familie gewesen war. Insgesamt waren wir acht. Acht Kinder voller Freude, Wünsche und Hoffnungen. Oder sagen wir besser: Sieben Kinder voller Freude, Wünsche und Hoffnungen. Ich war kein Kind. Ich sollte zu einem Monster heranwachsen. Ein Monster in der Verkleidung eines Superhelden. Diese Gedanken waren die ersten die mir jeden Morgen durch den Kopf gingen, wenn ich noch schlaftrunken im Halbdunkel meines Zimmers lag.

Um genau zu sein war es nicht mein eigenes Zimmer. Das Bett meines großen Bruder Jadoo stand verlassen an der gegenüberliegenden Wand. Wie jeden Morgen sah es aus, als wäre er aufgestanden und hätte alles stehen und liegen gelassen bevor er zur Schule aufgebrochen war. Mein Blick glitt zu dem Wandkalender. Ein dunkelroter Kreis mit Sillas Namen prangte auf dem Papier. Zwei Monate noch. Als könnte ich diesen Tag jemals vergessen. Seit diesem verhängnisvollen Tag, an dem sich alles verändert hatte, hatten meine Brüder Bhajan und Devi als nächster das Haus verlassen und wir hörten nur selten von ihnen. Jadoo hatte angefangen zu trinken. Zumindest an den Wochenenden. Das war der Erfolg unseres Therapeuten. Das Jadoo nicht mehr, wie unsere Mutter, jeden Morgen mit einem Bourbon begann, sondern nur noch die Wochenenden aus seinem Gedächtnis strich. Ich hatte den Verdacht, dass er nur sehr gut darin war das zu überspielen.

Ich drehte mich auf den Rücken und streckte mich. Sillas Lapislazuli lag kalt auf meiner nackten Brust. Ich lauschte ob jemand wach war. Ob Mutter durch das Haus geisterte, wie sie es seit zwei Jahren tat. Ich hatte schnell gelernt ihr auszuweichen. Mehr als einmal hatte sie mich durch das ganze Haus geprügelt und ich hatte es hingenommen. Nicht nur, weil mir die Schläge nichts mehr ausmachten, da mein Fluch nicht zu ließ, dass mir weh getan wurde; Weil sie recht hatte. Ich war ein Monster. Und als Monster hätte ich den Tod verdient.

Nicht, dass ich es nicht schon versucht hätte. Es war vor einem Jahr gewesen, als ich es nicht mehr ausgehalten hatte. Die Schuldgefühle hatten mich erdrückt und ich hatte versucht mich zu erhängen. Letztlich baumelte mein Körper nur nutzlos in der Luft herum. Mein Nacken und Genick bestanden aus einem unzerstörbaren Material, das durch meine Andersartigkeit hervorgerufen worden war um mich zu schützen. Ich wartete drei Stunden, bis mein Vater zurückkam und mich vom Balken holte. Ich konnte mich nicht umbringen. Das war mein Fluch. Ich konnte niemanden beschützen und mich nicht selbst dafür bestrafen.

Als meine Eltern das erste Mal erfuhren, dass mein Körper anders war als der von normalen Menschen, wussten sie nicht, wie sie damit umgehen sollten. Ich hatte schreckliche Angst gehabt, als es das erste Mal passiert war und war dadurch nicht in der Lage gewesen es vor meiner Familie geheim zu halten: Die seltsame Fähigkeit meinen Körper an alle äußerlichen Umstände anzupassen. Es war ähnlich wie in einem dieser X-Men Comics die ich mit meinen älteren Geschwistern gelesen hatte. Ähnlich dem Superhelden Darwin konnte ich meinen Körper an meine Umwelt anpassen. Anders als in diesen Comics gab es keine Schule oder einen netten Professor X der mich aufgeklärt hätte und mich vor der Welt verbergen oder geschützt hätte.

Meine Eltern brachten mich zum Arzt und erzählten die fantastische Geschichte, dass ich plötzlich Hornplatten entwickelt hätte wie ein Schildkrötenpanzer. Als ich vor dem Arzt saß war davon nichts mehr zu sehen gewesen. Wir gingen zu verschiedenen Ärzten, aber ich konnte meine Fähigkeit nicht kontrollieren und so nicht zeigen, was ich im Stande war zu tun. Die Ärzte kamen zu dem Schluss, dass ich eine blühende Fantasie hätte und meine Eltern mich in dieser Fantasie bestärken würde. In der elterlichen Sorge, dass mit mir etwas nicht in Ordnung war – und das war es ja nicht – brachten sie mich in den Tempel um zu beten. Meine Mutter erklärte mir schließlich, weil ihr keine andere Erklärung mehr einfiel und sie mich beruhigen wollte, dass ich von den Göttern gesegnet worden. Das war, als Mama noch stolz auf mich gewesen war. Als ich noch ein Wunderkind gewesen war. Das war vorher. Heute war ich kein Wunderkind mehr. Heute war ich ein Bastard. Ein Monstrum. Ein Dämon den sie geboren hatte und nicht wieder loswurde.

Langsam erhob ich mich und machte eine kurze Yogarunde, bevor ich ins Bad ging um mich für die Schule fertig zu machen. Für einen weiteren Tag in der Hölle. Ich musste einen kurzen Sprint einlegen um vom Badezimmer ungesehen in die Garage und zu meinem Fahrrad zu kommen. Am frühen Morgen durfte ich meiner Mutter nicht begegnen. Für gewöhnlich stand ich auf bevor sie aufwachte, nur heute hatte ich es nicht geschafft. Ich hatte kein Auto und ohne Jadoo kam ich nicht mit einer anderen Mitfahrgelegenheit zur Schule. Zur Morgenstunde machte mir das Rad fahren nicht viel aus. Aber wenn es am Nachmittag fast dreißig Grad und puren Sonnenschein gab, dann wurde das oft schon zu einer Qual. Zu meinem Glück hatte meine Mutter bereits so viele Tabletten und Alkohol konsumiert, dass sie nicht hörte, wie die Tür hinter mir ins Schloss knallte.

Der Lärm auf den Fluren der Swadeswan Lake High School war ohrenbetäubend. Ich senkte den Kopf, sobald ich bei den Fahrradständern ankam und mein Rad sicherte. Keiner beachtete mich in diesem Moment, was mir nur recht war. Ich war pünktlich zur ersten Stunde in meinem Klassenzimmer und versuchte mich so unsichtbar wie nur möglich zu machen. Das war teilweise nicht so einfach, selbst mit all meiner Erfahrung darin. Wenn meinen Mitschülern langweilig wurde, dann war ich das gefundene Fressen für ihre Schikanen. Dann kam die ganze Grausamkeit meiner Generation zum Vorschein. Ich glaubte oft, dass Mobbing eine Menschheitskrankheit war und niemals zu existieren aufhören würde.

Mein Image war noch nie das beste gewesen. Den Anschluss hatte ich erst im letzten Jahr völlig verloren. Nach meinem Selbstmordversuch war ich endgültig als Freak abgestempelt worden. Ab und an grüßten mich noch Menschen auf dem Gang, die einmal eine Verbindung zu mir gehabt hatten, aber auch das starb immer weiter aus. Das war mir nur recht. Niemand wollte mit mir wirklich sprechen, niemand neben mir sitzen. Ich der Freak, schon immer gewesen und würde es immer bleiben. Während ich meinen Gedanken nachhing ließ ich den Blick aus dem Fenster schweifen.

Swadeswan Lake war eine traurige Kleinstadt, was durch das verdorrte Gras am Wegesrand und in den Gärten hervorgehoben wurde, benannt nach einem See, der nun mehr ein Tümpel geworden ist an dem sich die Jugend der Stadt zum Schwimmen und Trinken verabredete. Unsere Kleinstadt war hauptsächlich berühmt geworden durch ein ausgestorbenes Raumfahrtprogramm und mehrere Geistergeschichten die jedes Jahr eine kleine Touristenwelle in die Stadt spülten. Die Sommermonate waren kaum auszuhalten, wenn es so warm wurde, dass man sich kaum bewegen mochte. Als würde die ganze Stadt in Flammen stehen und niemand wollte es löschen. Bei dem Gedanken an Flammen bemerkte ich aus dem Augenwinkel rote Haare. Ich lehnte mich vor, wollte sehen, wer da so spät noch über den Schulhof lief, doch die Person war hinter der Schule verschwunden. Viele Rothaarige gab es an unserer kleinen Schule nicht. Genau genommen gab es sieben. Drei davon waren Lehrer und einer der Hausmeister. Die anderen drei waren Mädchen mit langen oder schulterlangen Haaren. Nicht kurz und verwegen wie die der gerade verschwundenen Person. Es gab nur zwei Möglichkeiten: Entweder gab es einen neuen Mitschüler, wobei ich mich fragte wer freiwillig nach Swadeswan Lake ziehen würde, oder meine Mitschüler hatten jemandem Kaugummi ins Haar geklebt und diese musste sich die Haare abschneiden. Wäre nicht das erste Mal gewesen.

Es vergingen noch zwei weitere Stunden, bis die roten Haare mir wieder entgegen leuchteten. In diesen zwei Stunden verbreitete sich die Neuigkeit unseres neuen Mitschülers wie ein Lauffeuer. Die Beschreibungen waren so durcheinander, dass sich nur ein Detail wirklich hielt: Er hatte rote Haare die ihm in glatten Strähnen ins Gesicht fielen. Und damit hatten sie alle recht, wie ich beim Eintritt in das Klassenzimmer feststellte. Diesmal leuchteten mir die kupferroten Haare wie das glühen von frisch geschmiedetem Eisen von dem Platz direkt neben meinem aus entgegen. Verwundert blinzelte ich ein paar Mal. Täuschte ich mich oder saß da wirklich ein Junge neben meinem Platz? Ich versuchte mir meine Verwirrung nicht anmerken zu lassen, setzte mich und ignorierte diese unvorhergesehene Veränderung, so gut es ging. Nur einmal lehnte sich der drahtig muskulöse Körper zu mir. Seine angenehme Stimme streifte meine Ohren: „Hast du mal einen Bleistift?“ Ich drehte den Kopf, völlig verloren in dieser neuen Situation. Seine Augen schimmerten wie Jade. Eine Tatsache die mich genauso aus dem Konzept brachte wie die, dass er überhaupt das Wort an mich gerichtet hatte, bis mir einfiel was er gefragt hatte. Stumm reichte ich ihm einen Stift. Als die Schulglocke läutete sammelte ich schnell meine Schulbücher ein und hastete ich aus dem Raum. Ich wollte nicht, dass der Neue mit mir gesehen werden würde. Ich wollte seinen Start an einer neuen Schule nicht sabotieren.

Auf dem Flur wich ich den Blicken der anderen Schüler aus, versuchte mich unsichtbar zu machen. Seit einige Mitschüler die Videos meiner Brüder gefunden hatten war ich der freakige Zauberkünstler, der mit dem Internet versuchte Aufmerksamkeit zu erregen und dies bei meinem Versuch mich umzubringen auf die Spitze getrieben hatte. Mein Spint erschien mir wie ein Signalfeuer in dem Sturm an Körpern und Gesprächen. Ich beschleunigte meine Schritte. Es war schon lange unangenehm zwischen den Stunden durch den Flur zu gehen. Überall lauerten sie. Die anderen Jugendlichen, denen es Spaß machte, mich zu schikanieren. Es fehlten nur noch ein paar Schritte bis ich den kleinen Metallkasten erreicht hätte, als ich grob an der Schulter herumgerissen wurde.

„Hey Patschuli!“, lachte Kyle Zokey mir frech ins Gesicht, während sich seine Freunde um mich herum aufbauten. Footballspieler. Stars der Schule. Footballspieler gegen die ich als dünner, schlaksiger Junge nichts ausrichten konnte. „Was willst du?“, fragte ich und schielte kurz zu seinen Freunden, dann zu meinem Spint. Ich hatte es fast geschafft. Mein Blick wanderte wieder auf den Boden, ehe ich kurz zu Kyle sah, der nur verschmitzt grinste. In der nächsten Minute geschah alles so schnell, dass ich keine Zeit hatte zu reagieren. Seine beiden Freunde packten mich an den Oberarmen. Griffe wie Schraubstöcke und klemmten mich so zwischen ihnen ein. In wenigen Schritten waren wir in der Toilette unweit entfernt verschwunden. Noch bevor die Tür ins Schloss gefallen war, erhaschte ich noch einen Blick auf den rothaarigen Jungen aus meinem Kurs. Seine jadegrünen Augen lagen auf mir, ein unergründlicher Ausdruck darin. Dann versperrte mir die Tür der Toilette den Blick, zusätzlich zu den Footballern die mit mir in dem kleinen Raum standen.

„Was soll das Kyle“, sagte ich gelangweilt. Es war ja meist der gleiche erfundene Grund, den ich nie wirklich verstehen würde. Ich war keine Bedrohung für sie. Ich wollte ihnen keine Mädchen klauen und auf den Partys, die die Sportler veranstalteten, war ich nie anwesend. Ich wusste nicht, was dieses Ritual hier zu bedeuten hatte. Wahrscheinlich würde ich es nie verstehen. Es war für sie einfach nur ein großes Vergnügen.

„Ich weiß, wer deine Laborpartnerin ist“, knurrte Kyle und schlug mir im gleichen Moment die Schulbücher aus der Hand. Die übliche erste Geste. Er wollte, dass ich vor ihm kriechend über den Boden robbte um die Bücher aufzusammeln. Einer seiner Freunde hatte sich eines geschnappt und in die Toilettenschüssel gesteckt bevor er lachend die Spülung betätigte. Dann schoben sie mich in eine andere Kabine.

„Was hast du denn?!“, fauchte ich endlich wütend über dieses unsinnige Spektakel in dem ich mich schon wieder befand. Louise Rogers. Meine neue Laborpartnerin für dieses Jahr. Ich wusste, dass sie mit Kyle zusammen war. Ich wusste nicht, wieso man ein solches Rhinozeros überhaupt lieben sollte. „Du hast sie heute angefasst“, brüllte Kyle mir ins Gesicht, die Wut ließ ihn sabbern und ich ging in Sekundenschnelle meine Handlungen im Chemielabor durch. Ich hatte Louise die Hand gegeben, mich vorgestellt. Sie war ein nettes Mädchen. Völlig unpassend für die Sportler, aber irgendetwas musste sie ja für Kyle passend machen, auch wenn ich nicht wusste was. Hatte sie ihm irgendetwas erzählt, was nicht stimmte? Wir hatten den Versuch als bestes Team erledigt. Sie hatte mich vor Freude umarmt. Hatte sie daraus eine falsche Geschichte gestrickt?

„Das war doch nichts. Himmel ich fasse täglich mehrere Leute an“, versuchte ich es jetzt mit ruhigerem Ton, obwohl ich wusste, dass das nicht helfen würde. Wenn wir ehrlich waren, dann fasste ich pro Tag vielleicht drei Menschen an. Das musste Kyle ja nicht wissen. Er zog seine Show weiter durch.

Die Schläge und Tritte die er verteilte brachten nichts, aber ich krümmte mich brav, um den Anschein zu erwecken, dass sie mir weh taten. Unter meiner Kleidung verwandelte sich meine Haut in eine starke Panzerung, sodass ich keinen Kratzer abbekam. Dieselbe Panzerung, die Jadoo an diesem einen Tag an meinem Körper hervorgerufen hatte. Dem Tag der alles verändert hatte. Wenn ich geglaubt hatte, dass Schläge und Tritte alles sein würden, womit ich an diesem Tag zu rechnen hatte, dann hatte ich falsch gedacht.

Als sie mit mir fertig waren, stanken meine Kleider nach Urin und meine Bücher hatten Wellen geschlagen von all dem Klowasser. Ich wartete noch ein paar Minuten, ob wirklich keiner der Footballer zurückkam, ehe ich aufstand, meine Sachen aufsammelte und zu meinem Spint schlich.

Ich hatte für solche Fälle vorsorglich Kleidung zum Wechseln, die ich jetzt erleichtert nutzte. Mit den Büchern, die ich für den Biologieclub nach dem Mittagessen brauchte, machte ich mich auf den Weg in die Mensa. Ein weiterer Tag in der Schule war fast geschafft.

Mein Blick wanderte über die Tische und Köpfe meiner Mitschüler. Jeder hatte Freunde oder gehörte einer Clique an. Obwohl ich an vielen außerschulischen Aktivitäten beteiligt war, wollten selbst diese Clubmitglieder nicht wirklich mit mir zu tun haben. Vielleicht glaubten sie, dass ich Unglück bringen würde. So genau wusste ich das nicht und gefragt hatte ich nie. Ich erhaschte einen Blick auf Jadoo am anderen Ende des Raumes. Er saß mit einigen Punkern zusammen. Ich erkannte an seinen Bewegungen, dass er nicht nur wieder getrunken hatte, sondern sicher noch andere Drogen eingenommen hatte. Ein Seufzen entwich mir, während ich mit der braunen Papiertüte, in der sich mein Lunch befand unsinnig allen anderen im Weg herumstand. Mehrere Mitschüler rempelten mich an und nuschelten halblaute Entschuldigungen. Ich wollte mich gerade endlich auf den Weg zu einem Platz machen, als ich gegen jemanden stieß. „Entschuldigung“, sagte ich hastig ohne aufzusehen. Mein Blick war für gewöhnlich auf den Boden gerichtet. So wenig ich andere Menschen ansah, desto eher übersahen sie mich. „Kein Problem“, sagte mein Gegenüber. Ich erkannte die Stimme aus dem Klassenzimmer wieder. Die Stimme von dem Rothaarigen. Und auch die ausgetretenen Schuhe erkannte ich wieder, auf denen mein Blick klebte, als hätte ich noch nie einen Schuh gesehen. Farbreste waren darauf verteilt. Ich vermutete der Rotschopf hatte sie beim Streichen angehabt. Oder er hatte, wie viele in der Schule, auf seinen Schuhen mit einem Stift herum gekritzelt. Ich nickte hastig und schlängelte mich sofort zwischen zwei Tischen hindurch. Im Hintergrund vernahm ich getuschelte Worte. Halbe Sätze: „Hast du das gesehen? – …angerempelt hat? – Freaks sollten…“ Ich verschloss meine Ohren. Das passierte, wenn man mir begegnete. Ich war ein Schmutzfleck der, einmal auf der teuren Imagejacke, nie wieder abwaschbar war.

Meine dunklen Augen fanden recht schnell ein bekanntes Gesicht. Ein Junge aus meinem Mathematikklub. Ich lächelte ihn zaghaft an: „Darf ich mich zu euch setzen?“ Meine Stimme klang dünn und kleinlaut. Als würde ich jeden Moment erwarten, dass man mich davonjagte. Er grinste nur zu mir hinauf und machte mir Platz. Ich wusste seinen Namen nicht mehr und mittlerweile war es zu spät noch einmal zu fragen. Er saß mit zwei anderen Schülern am Tisch und unterhielt sich angeregt über den Satz des Pythagoras. Kein Wort über den Neuen. Ich konnte ihn deutlich zwischen den anderen Schülern ausmachen, weil er jeden um drei Köpfe überragte. Basketballer. Das war das erste, was mir zu ihm einfiel und als hätte ich einen Zauberspruch damit aufgesagt, erschienen die Schüler der Basketballmannschaft und lotsten den Neuen zu ihrem Tisch.

Ich beteiligte mich kaum an dem Gespräch an meinem Tisch, schließlich wollte ich mich nicht aufdrängen. Das sagte ich mir zumindest, anstatt mir einzugestehen, dass ich nur so neugierig war wie alle anderen was unseren Neuzugang betraf.

Es dauerte nicht lange, bis Nadiri mich gefunden hatte und sich mit einer ihrer Freundinnen zu uns setzte ohne zu fragen ob es stören könnte. Sie packte ihre Tasche neben mich und holte eine ähnliche Papiertüte hervor wie ich sie hatte. „Hey ihr“, grüßte sie alle am Tisch und wandte ihren Blick dann mir zu. Ich konnte das Funkeln in ihren Augen sehen, das immer auftrat, wenn sie gleich etwas, für sie, Lustiges sagen würde. Und wieder einmal kannte ich meine Zwillingsschwester zu gut. „Cie ich habe gehört deine Laborpartnerin ist Kyles Freundin. Du lebst wirklich gefährlich Brüderchen“, sie kicherte leise und ich nickte nur dazu. Klar, dass die ganze Schule schon davon wusste. Oder vielleicht nur Nadiri und Jadoo.

In der Schule war bekannt, dass wir eine große Familie waren. Das war bei einer Kleinstadt unmöglich zu verstecken. Und da wir aus Frankreich hierhergezogen waren, waren wir ohnehin von Anfang an bekannt gewesen. Als Bhajan und Devi noch da gewesen waren hatte sich kaum jemand getraut mich wirklich zu mobben. Meinen älteren Brüdern wurde Respekt entgegengebracht und mein Image war noch nicht völlig zerstört gewesen.

Mürrisch stocherte ich in dem kalten Lammcurry herum: „Ich such mir das ja auch aus.“ Ich wusste, dass ich gerade meine Laune an ihr ausließ und es tat mir augenblicklich leid. Nadiri riss die Augen auf, wie es meine große Zwillingsschwester zu tun pflegte und machte einen traurigen Mund: „Das habe ich gar nicht gesagt!“ „Ich weiß“, gab ich sofort beschwichtigend zurück und schaufelte mir den Mund mit Curry voll um nichts mehr zu sagen, was sie verletzen würde.

„Hast du den Neuen schon gesehen?“, fragte meine Schwester, als wir am Ende des Tages zusammen mit dem Fahrrad zurück nach Hause fuhren. Nadiri hatte sich die Zeit vertrieben, während ich bei meinen Clubs war um meine Schülerakte fürs College aufzubessern. Sie hatte den Plan gefasst, in diesem Jahr dem Drama Club beizutreten. Aus diesem Grund hatte ich sie in der kleinen Schulaula gefunden als ich fertig war. Gleichzeitig hatte Nadiri das Talent alles über jeden in Erfahrung zu bringen, weshalb ich ihr schon öfter vorgeschlagen hatte bei der Schülerzeitung mit zu machen. Meine Schwester hatte dazu nur eines zu sagen: „Gossip gehört in die hohle Hand, nicht in die Schlagzeile.“ Und irgendwie hatte sie damit recht.

Ich nickte auf ihre Frage: „Ja habe ich. Wie soll man auch nicht? Er ist der einzige neue Schüler.“

„Und wirklich hübsch ist er. Seine Familie gehört zu den Gründerfamilien von Swadeswan Lake.“

„Ernshaft?“, diese Information ließ mich hellhörig werden. Über die Gründerfamilie dieser heruntergekommenen Stadt hatten wir natürlich alle in der Schule gelernt. Der Geschichtsunterricht widmete fast drei Wochen diesem spektakulären Ereignis von Einwanderern und Sklavenarbeit und dem Bau der ersten Barracken. Obwohl unsere Berühmtheit lange Zeit ausblieb bis im frühen 20. Jahrhundert die ersten Geistersichtungen und später in den 50er Jahren das große Space Programm starteten.

Nadiri nickte heftig und fuhr einen Schlenker, weil sie sich nicht auf das Radeln konzentrierte. Ich musste leicht schmunzeln. Sie war viel offener mit ihrer Begeisterung als ich. „Sein Name ist Liam Hansborough. Die erste Generation der Gründerfamilie die nach Swadeswan Lake zurückgekehrt ist! Und er ist in die Basketballmannschaft aufgenommen worden. Heute war nicht einmal sein erster Tag. Er hat schon in den Ferien Kurse genommen um jetzt in unserem Jahrgang sein zu können. Er ist ein Jahr älter als wir und ist einmal sitzen geblieben. Seine Eltern sind aus Arizona hergezogen, weil sein Vater das Space Programm leiten soll, dass sie hier wieder anfangen. Er ist Einzelkind und seine Schuhgröße ist“

„Stopp!“, unterbrach ich ihren aufgeregten Wortschwall. Ich hatte kaum Zeit die Informationen zu verarbeiten aber ich wusste, dass ich nicht wissen wollte, welche Schuhgröße Liam hatte. Liam. Ich musste mir unweigerlich seine jadegrünen Augen vorstellen, das schräge Lächeln, das ich nur aus dem Augenwinkel gesehen hatte. Liam. Der Name passte zu ihm.

„Entschuldige. Aber ich bin so aufgeregt! Endlich mal wieder ein neues Gesicht hier“, Nadiri neben mir lachte, fuhr einen kurzen Moment jubelnd Schlangenlinien. Sie grinste mich an und ich erkannte diesen Hoffnungsschimmer in ihren Augen, den sie immer hatte, wenn sie meine Laune verbessern wollte. Traurigkeit mischte sich in ihren Blick. Ich wusste, dass sie es wusste. Dass sie wusste, was Kyle wieder mit mir gemacht hatte. Beschämt schlug ich die Augen nieder und trat fester in die Pedale um ihrem Blick zu entkommen. Es war besser so. Ich hatte das alles aus einem guten Grund verdient und Nadiri sollte das inzwischen verstanden haben.

Sie holte mich an der Haustür ein und nahm meine Hand. Es war zu einem Ritual geworden. Nadiri wollte mich beschützen und obwohl ich nicht wollte, dass sie zwischen mich und Mama kam, ich konnte es ihr nicht ausreden. Dafür liebte ich sie noch mehr. Nadiri war zwei Minuten vor mir zur Welt gekommen und das nutzte sie für gewöhnlich als Argument bei Streitigkeiten oder Diskussionen zwischen uns. Ich hatte gelernt ihr diese Siege zu lassen. Sie lächelte mich warm an und gab mir einen Kuss auf die Wange: „Heute wird es anders.“ Sie klang so zuversichtlich wie es Mama oft gewesen ist. Vor diesem Tag. Ich wusste, dass dies die Lüge war, nach der Nadiri lebte. Nach der sie überlebte.

Heute wird alles anders.

Das war ihr Glaubenssatz. Wir blickten zu der Auffahrt unseres kleinen Hauses, wo wir unsere Fahrräder angelehnt hatten. Vater war noch nicht von der Arbeit zurück. Sein verbeulter Wagen stand nicht in der Auffahrt. Jadoo fuhr immer mit Freunden und wir konnten uns sicher sein, dass er noch nicht zu Hause war. Er kam knapp vor dem Abendessen und verschwand danach sofort wieder. Ich blickte meiner Schwester wieder in die dunklen Augen die mich an Tigerauge erinnerten und legte kurz eine Hand auf den Lapislazuli den ich nie abnahm. Sie nickte mir zu, ich nickte zurück, dann öffnete sie die Tür.

Gemeinsam, als wären wir eine einzige Person, traten wir in den Flur. Es herrschte zunächst eine ohrenbetäubende Stille, dann vernahmen wir das leise Gemurmel aus dem Wohnzimmer. Nadiris Blick glitt zu mir als wollte sie sich versichern, dass ich wirklich da war, dann gingen wir durch den Flur zum Wohnzimmer. Wir waren eine Person. Jeden Abend, wenn wir nach Hause kamen.

Mama saß auf ihrem Sessel im Wohnzimmer. Sie sagte unverständliche Dinge. Ab und an viel Sillas Name. Ich schluckte schwer. Ravi saß auf dem Boden und spielte Autos und anderen Spielsachen. Manches sah neu aus, anderes hatten Jadoo, ich und die anderen älteren Geschwister ihm vermacht. Als er uns sieht beginnt er bis über beide Ohren zu strahlen. „Nadi! Cie!“, er sprang auf die kurzen Beine um uns zu begrüßen und ich ertappte mich wie ich im stillen Nadiris Glaubenssatz wiederholte: Heute wird alles anders.

Ravi wollte zu uns kommen, da schoss Mamas Hand blitzschnell vor und schloss sich um sein dünnes Handgelenk. Wir alle wandten den Blick ihr zu. Wie steinerne Götzen blickten wir uns an, dann entfloh ein Zischen ihren Lippen: „Rahu!“

Es klang wie ein Ausatmen, vernahm das Wort wie einen kleinen eisigen Stachel. Ich wusste, was folgen würde, wenn sie den Namen eines Dämons für mich verwendete. Wann hatte Mama mich das letzte Mal bei meinem Namen genannt? Bevor. Es war bevor. Das war alles, was in unserer Familie noch wichtig war. Es gab ein Bevor und ein Danach. Und im Danach war ich ein Dämon. Ein Monster im Kleid eines Menschen.

Ravi blickte Mama besorgt an. Ihr Griff um sein Handgelenk wurde lockerer. Sie zog ihn auf ihren Schoss und küsste seine Wange, seine Stirn. Strich ihm das Haar aus dem Gesicht: „Ich beschütze dich Ravi vor Rahu. Vor dem Monaster. Hab keine Angst. Er wird dir nichts tun.“

„Mama, hast du Abendessen gemacht?“, hörte ich Nadiris Stimme zwischen dem Gemurmel. Mama antwortete ihr nicht. Sie blickte wieder auf, ihre dunklen Augen voller Hass auf mich gerichtet. „Rahu! Verschwinde aus meinem Haus! Du hast keinen Platz unter den Sterblichen, Dämon!“, während ihre laute Stimme Ravi zum Weinen brachte, sprang sie auf wie eine Katze die auf ihre Beute zuspringen wollte. Ich drückte Nadiris Hand die sich zwischen uns schob wie ein Schutzschild. Tränen sammelten sich in meinen Augen. Schreie brachen um mich herum aus. Ich hatte nur Augen für den abgrundtiefen Hass in den Iren meiner Mutter. Speichel sprang von ihren Lippen während sie schrie. Ich spürte ihre Faust die mich streifte, während Nadiri sich gegen sie stemmte und mit ruhiger Stimme auf sie einsprach. Da erst bemerkte ich, dass sie meine Hand losgelassen hatte.

„Mama willst du dich nicht ausruhen? Du bist verwirrt.“, ihre Stimme lenkte die Aufmerksamkeit meiner Mutter nach einer gefühlten Ewigkeit auf meine Schwester die ihr liebevoll eine Haarsträhne aus der Stirn strich. Als hätte sie Nadiri vorher nicht erkannt, verließ jede Spannung Mamas Gesicht. Sie lächelte leicht. Blinzelte irritiert. Ravi saß auf dem Boden und weinte, während ich die Arme um mich geschlungen hatte im verzweifelten Bemühen mich selbst zu trösten. „Nadiri“, flüsterte Mama liebevoll und strich meiner Schwester über die Wange. Dann begann sie zu weinen. Schluchzer schüttelten sie so heftig, dass ich nicht mehr hinsehen konnte. Ich trat beiseite als Nadiri sie ins Schlafzimmer begleitete und wartete bis sie außer Sichtweite war bevor ich mich zu Ravi setzte. Ich zog meinen kleinen Bruder auf den Schoß und schlang die Arme um ihn. Hörte, wie ich selbst beruhigende Laute von mir gab, spürte wie ich seinen kleinen Körper hin und her wog. Und mir wurde klar, dass ich all diese Gesten mehr für mich und weniger für ihn vollführte. Meine Kehle fühlte sich an, als wäre ich gewürgt worden. Ich erstickte ohne zu ersticken.

Heute wird alles anders.

Ich verkniff mir ein verzweifeltes Lachen.

Vielleicht morgen, Nadiri. Dachte ich bei mir. Vielleicht morgen.